Samstag, 30. November 2013

Fisch essen Seele auf



Als ich 1971 Rainer das erste Mal traf, war ich gerade in München, wo ich für meinen Arbeitgeber, das Seidenhaus Abraham in Zürich, ein paar Recherchearbeiten zu erledigen hatte. Zumsteg, mein Chef, hatte mich damit beauftragt, Dirndl-Schneider zu besuchen und Fotos von deren neusten Stoffkreationen zu machen, weil ihm irgendwas ‚Alpenländisches’ als Idee im Kopf herumschwirrte, dass er mit Saint-Laurent im nächsten Monat besprechen wollte.

Es war im Hotel Deutsche Eiche, wo ich zu Mittag ass und gerade ein Stück Schweinebraten auf der Gabel in den Mund schob, als sich Rainer alleine an den Tisch neben mir sass und mich von Beginn weg unverhohlen beim Essen beobachtete. Da ich Fassbinder von ein paar Fernsehinterviews her kannte, fühlte ich mich etwas irritiert, aber auch geschmeichelt. Denn offensichtlich schien ich gerade die absolute Aufmerksamkeit des aufsteigenden Sterns und Enfant terrible des Deutschen Films zu erhalten. Also lächelte ich zurück und hielt seinem Blick stand. Schnitt.

Als Rainer mich zwei Jahre, ein paar Liebesnächte und einige gemeinsamen Besäufnisse später in Zürich besuchte, um zwei Tage einfach mal weg zu sein, schlenderten wir durchs Niederdorf zu Bianchi, dem wunderbaren Delikatessengeschäft an der Marktgasse, wo ich für ein gemeinsames Nachtessen zu Hause etwas geräucherten Lachs und eine dicke Scheibe Sashimi-Thon kaufen wollte. Während wir warteten, bis die Reihe an uns war, stand Rainer wie ein kleines staunendes Kind da und betrachtete die gerupften Wachteln, Enten, Rebhühner und Poulets in der Auslage. Dann murmelte er halblaut vor sich hin: „Was diese Viecher wohl vom modernen Theater halten?“ Schnitt.

Wir sitzen beide bei mir zu Hause am grossen Holztisch und geniessen den in kleine Stücke geschnittenen Sashimi-Thon, welchen ich mit Olivenöl und Fleur-du-sel etwas mariniert habe, dazu ein Bürlibrot und eine Flasche Château Lafaurie-Peyraguey, einen herrlich goldenen Sauternes von 1966, der etwas nach Ziege, Leder und Honig roch, aber auf der Zunge ein einziges süsses Versprechen war. In meinem Kopf kreiste die Kamera von Michael Ballhaus im Kreis um uns herum – eine Technik, die er notabene bei einem Film von Fassbinder das erste Mal eingesetzt hatte und wegen der er unter anderem auch später zu einem der bedeutendsten Kameramänner der Filmbranche avancierte –, während Rainer und ich uns lächelnd ansahen, weil wir wussten, dass wir die Wohnung heute nicht mehr verlassen würden. Schnitt.

Rainer und ich liegen nebeneinander im Bett und blicken an die Decke. Dann blicke ich ihn an und sage leise: „Du lebst zu schnell. Ich mag dich sehr. Du bist für mich der wunderbarste und sonderbarste Mensch, den ich kenne. Unberechenbar, kalt und liebevoll zugleich. Du bist ein Zuviel von allem. Ein Chaos, ein Wrack, ein alter Baum. Ein verletztes Kind und eine ausgelesene Bibliothek. Und ich...ich bin der, der hier gerade zu viel redet.“ Schnitt.

Paris, 1983. Ingrid Caven und ich sitzen in der Brasserie Lipp, trinken einen kühlen Sancerre und essen dazu Saumon fumé. Rainer ist schon etwas mehr als ein Jahr tot. Und obwohl ich ihn nach seinem Besuch vor 10 Jahren in Zürich nur noch zwei Mal gesehen habe, fehlte er mir unendlich. Ingrid, die Anfang der 70er mit Rainer etwas mehr als zwei Jahre verheiratet war, lernte ich erst später über unseren gemeinsamen Freund Yves Saint-Laurent kennen, der schon über zwei Jahrzehnte ein Kunde von uns war und der für Ingrids Konzerte ein grandioses Kleid entworfen hatte. Ingrid und ich hatten uns bei einer Party bei Yves sofort verstanden; und dass wir beide mit Rainer einmal in einer Beziehung standen, hatte uns auf eine eigenartige Weise verbunden. 

„Weisst du,“ sagte ich zu Ingrid, „jedes Mal, wenn ich rohen oder geräuchten Fisch esse, muss ich an Rainer denken. Erotisch auf der Zunge, aber in Händen halten konnte man ihn nicht.“

Ingrid sah mich ganz perplex an, prustete dann aber los und lachte aus vollen Herzen. Und auch ich lachte aus vollem Herzen. Bis uns die Tränen kamen. Bis wir um Rainer weinten. Lachend und heulend. Elend und glücklich. Traurig und befreit.

Mittwoch, 27. November 2013

Mandarinen auf dem Balkon



Wenn in diesen Tagen die Sonne erst nach 8 Uhr morgens in den späten November strahlt und das Licht in einem zarten Orange die Hausmauern zu farbigen Kulissen macht. Wenn einzelne Nebelschwaden die Gewässer bevölkern und der Reif die Wiesen in silbernes Fell verwandelt. Wenn die gelben Blätter auf kaltem Asphalt wie verlorene Kinderzeichnungen ein Muster bilden und die Strassen zu einem See aus Puzzlestücken machen. Wenn ein Cello eine Melodie von Ralph Vaughan Williams wie einen Vogel in die Weite des Morgenhimmels schickt. Wenn Rauch aus den Kaminen alter Häuser steigt. Wenn die Kälte das Gesicht erstarren lässt. Wenn der Wind die Hosenbeine zu kalten Säulen verwandelt.

Dann liegen wieder die Mandarinen auf dem Balkon. In einer Schale, frisch und leuchtend, als ein Versprechen und als Kontrapunkt. Als Vorfreude auf den Advent.

Sonntag, 24. November 2013

Wie man die Eingeweide Heinrichs des VIII. zubereitet



Anne Boleyn stand mit ihrem eigenen Kopf unter dem Arm auf einer kleinen Anhöhe bei Tower Hill, von wo aus sie in die dunklen Wolken des Himmels schaute und ihren Mann aus dem Jenseits verfluchte. Vor etwas mehr als einer Woche war sie im Tower of London enthauptet worden, weil sie gegen den König ein Mordkomplott geplant und ihn mit einem inzestuösen Verhältnis mit ihrem eigenen Bruder betrogen haben soll. Doch der wahre Grund war, dass sie ihm, nach Elisabeth, der späteren Königin, keinen Knaben mehr geboren und mit zwei Totgeburten ihr eigenes Todesurteil unterschrieben hatte.

„Was denkt sich dieser fettwanstige Lümmel eigentlich. Mich einfach wie eine ausgemelkte Kuh auf die Schlachtbank zu schicken, um dann wieder ein anderes Weib zu besteigen.“

Sie war sichtlich zornig und hatte Mühe, ihren Kopf – den unter dem Arm zu halten sie noch nicht gewohnt war, und welchen sie deswegen schon ein paar Mal auf den Boden fallen lassen hatte, – jetzt nicht schon wieder in den Dreck vor ihr zu werfen. Sie wollte ihn nicht wieder verlieren und rang deshalb um Beherrschung. Eine Beherrschung, die sie sich einreden musste, um sich nicht auch noch um den Verstand zu bringen. So schluchzte sie nach dem Wutausbruch vor sich hin und erinnerte sich an die letzten Minuten ihres Lebens, um sich innerlich wieder etwas aufzubauen. Dem Augenblick, als sie den Lords und dem Henker gegenübertrat und weder um ihr Leben flehte noch ihren Mann, den König, öffentlich verunglimpfte. Sie wusste, dass sie es der Geschichte schuldig war, mit Stolz und Würde aus dieser Welt zu scheiden. Vor allem aber war sie es auch Elisabeth schuldig, dem Töchterchen, das der Willkür und dem Goodwill des cholerischen Königs ausgesetzt sein würde.

„Und dennoch verfluche ich dich jetzt, Henry. Wärst du vor wenigen Hundert Jahren in Frankreich geboren worden, hätten Hexenmeister deine Eingeweide für den Teufel zubereitet. Deine Leber wäre mit Galle verätzt, deine Niere mit Krähenfüssen gekocht und dein Herz mit Hundekot gebeizt worden. Du wärst ein Niemand gewesen, den man nicht nur bespuckt, sondern auch ausgespuckt hätte. Hörst du mich Henry?“

Heinrich der VIII. hörte sie natürlich nicht. Und es ist wissenschaftlich praktisch erwiesen, dass dieser Fluch keine Wirkung auf ihn gehabt haben dürfte. Aber dennoch behaupten böse Zungen, dass dieser Fluch der Grund dafür gewesen sei, um die unzähligen ungeniessbaren Gerichte des englischen Königreiches mit Pfefferminzsauce zu übertünchen. Man wollte fortan wegen der Angelegenheit Boleyn nie mehr einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge haben.

Donnerstag, 21. November 2013

Der erste Schnee auf unseren Tellern

Wenn die ersten Flocken vor der silbergrauen Leinwand des herannahenden Winters vor unseren Augen auf die Erde schweben. Wenn die Welt still geworden ist und nur einzelne Vögel von einem blattlosen Baum zum andern flattern. Wenn ein schwarzes Zeichenpapier auf unseren Schulpulten landet, auf das wir mit weissen Kreidestiften Schneemänner zaubern. Wenn die Nacht sich schon früh übers Land zum Schlafen legt. Und wenn die geheizte Stube nach Mandarinen duftet. Dann ist der Winter da. Und die Erinnerung daran, was schon immer zu einem Winteranfang gehörte. Ein Teller mit heissem Siedfleisch, Wienerli, Rahmspinat und Bratkartoffeln.

Dienstag, 19. November 2013

Obelix ante portas



Ich stand an einem Donnerstag im Oktober auf der Piazza Fortebraccio in Perugia und hielt ein Panini mit Porchetta in der Hand. Spanferkel, wie lange hatte ich das schon nicht mehr gegessen und wie wunderbar ist es, dass man das in Italien heute noch auf den Wochenmärkten bekommt. Dieses saftige Stück Fleisch, das nach etwas Knoblauch, Rosmarin und Oregano schmeckt, und dessen Schwarte zur knusprigen Kruste mit einem leicht süsslichen Geschmack wird, wenn man es geduldig und mit genug Bier und etwas Honig stundenlang übergiesst.

Und dieses Fleisch, das ich jetzt in Händen hielt, erinnerte mich an meine Jugend. Es katapultierte mich zurück in die Zeit, als ich nachmittags in meinem Zimmer auf der Bettdecke lag und mich davon machte. 2000 Jahre zurück. 50 Jahre vor Christus. In ein ganz kleines Dorf im Nordwesten Galliens, in dem Asterix und Obelix lebten, die den Römern trotzten, Wildschweine jagten, Abenteuer bestanden und am Ende immer ein Fest feierten. Ich war innerhalb von ein paar Sekunden um 40 Jahre jünger geworden und roch jetzt das Papier des Comics, die Bettwäsche mit ihren kleinen aufgedruckten roten Röschen und den Manchesterstoff meiner kurzen Hose. Und ich sah vor allem die grosse runde Tafel, an denen die lustigen Gallier sassen, Met tranken und den Barden Troubadix an eine Eiche gefesselt hatten. Und natürlich immer wieder Obelix, der die gebratenen Wildschweine gleich ganz zu verschlingen schien. Wie wäre ich als Kind doch gerne ein Teil dieses Festes gewesen, ein Bewohner dieses Dorfes, eine Figur aus einer gezeichneten Welt, die nichts mit dem gemein hatte, was sich bei mir im Leben gerade abspielte. Keine Schule, kein parteiischer Lehrer, keine Kletterstange, keine foppenden Mitschüler, kein Ausgelachtwerden.

Von solcherlei Gedanken in die Vergangenheit entführt, bemerkte ich plötzlich, dass mir Tränen in den Augen standen. Keine grossen, keine bitteren und keine reuevollen. Aber es waren Tränen. Ich stand hier mitten auf einem belebten Platz und weinte. Ich weinte, und ich war auf eine lächerliche Weise glücklich. Denn ich hatte Hunger. Und ich hatte ein Brot mit Spanferkel in der Hand. Und ich war jetzt Obelix.

Donnerstag, 14. November 2013

Aussteiger-Risotto im Calancatal



Santa Maria war der perfekte Ort für die beiden. Nachdem Rösli und Franz, die sich jetzt Bella und Francesco nannten, dem bünzligen Amriswil den Rücken gekehrt hatten, um dem kapitalistischen Lebensentwurf der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, fanden sie hier im Calancatal ein baufälliges Haus, das sie für 120 Franken im Monat mieten und Rustico nennen konnten. Hier war alles möglich. Selbstversorgung, Kommune, Spiritualität, Transzendenz und etwas Hanf im Garten.

Der gelernte Buchdrucker und die Kindergärtnerin wollten eine Familie gründen, die auf anderen Grundsätzen aufbaute, als jene, die sie selber in den Sechzigerjahren von ihren Eltern mitbekommen hatten. Dazu gehörten neben ein bisschen Marx, den sie nie gelesen hatten, auch Che Guevara und ein leicht zerbeulter Deux-Chevaux. Mit diesem konnte Francesco nach Roveredo pendeln, wo er einem schlechtbezahlten Job als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle nachging, den er einem deutlich besseren Angebot von einer kleinen Druckerei vorgezogen hatte. Doch Aussteiger, so seine Begründung für diesen Entscheid, konnte man sich ja nicht nennen, wenn man das Gleiche einfach an einem anderen Ort tat. Und bis das mit der Selbstversorgung dann auch wirklich selbsttragend werden würde, müsste eben doch noch etwas Stutz reinkommen. Man hatte ja auch Hunger.

Es war ein garstiger Oktoberabend, der doch tatsächlich schon den ersten Schnee gebracht hatte, als Bella mit ihrem feurigen und mit Henna gefärbten Haar tänzelnd vor dem Herd stand und in einem Risotto rührte. Im Hintergrund tourte eine LP von Marco Zappa auf dem Plattenspieler und lies das Lied „Pago tutto io“ in die kühle Kammer aufsteigen. Nichtsdestotrotz hüpfte Bella barfuss auf dem Holzboden hin und her, hielt in der linken Hand eine glühende Bidi und war einfach nur glücklich. Denn während Franz, sorry Francesco, heute wohl den ganzen Tag unzählige Schubkarren mit Flüssigbeton herumschippern musste, hatte sie sämtliche weisse Hemden und langen Röcke, die sie letzte Woche im Caritasladen in Zürich gekauft hatten, erfolgreich gefärbt, so dass nun die beiden oberen Kammern voller violetter Kleider hingen. Ja, man zeigte Flagge.

Doch nicht nur das machte sie glücklich. Sondern auch der Risotto vor ihr, der wegen dem Rotwein selber auch schon eine violette Farbe angenommen hatte. Ein violetter Tag. War das nicht eine Art Bestimmung? Bella sinnierte kurz darüber nach, lächelte und rührte dann wieder in dem Brei, der eigentlich schon seit 10 Minuten seine optimale Garzeit erreicht hatte. Aber noch etwas Violett, sprich Rotwein, konnte ja nicht schaden, hihi...und so gab sie noch einen kleinen Schluck von dem billigsten Merlot, den man im Dorf kaufen konnte, hinein.

Als fünf Minuten später Francesco durchgefroren durch die Tür trat und vor sich hinfluchte, weil er sich immer noch nicht an die Handschaltung des Deux-Chevauxs gewöhnt hatte, lachte Bella schon ganz benommen vor sich hin, als ob sie sturzbetrunken wäre.

„Hey Babe, was ist denn mit dir los“, fragte er etwas lächelnd und doch auch ein wenig beunruhigt.

„Fraaaaaancesco, ich liebe dich. Und ich habe soooooo gut für dich gekocht. Der Risotto ist einfach ein Wahnsinn“, stammelte Bella vor sich hin und lächelte ihn dabei wirr an.

„Was ist denn im Risotto drin?“, fragte Francesco.

„Im Risotto“, fragte Bella jetzt kurz verdutzt und fuhr dann fort, „was soll da denn drin sein? Hihihi. Rotwein, Peperoni, Zwiebeln, Bouillon, Petersilie und dann noch von dem Maggikraut, dass du im Garten gepflanzt hast. Du weisst doch, das mit diesen komischen Blättern. Du hast mir zwar gesagt, dass ich es nicht fürs Kochen brauchen sollte, aber irgendwie fand ich dann das doch schade.“

Francesco wurde ganz bleich. Und fragte dann Bella: „Und wie viel hast du davon reingetan?“

„Ach Schätzchen, keine Sorge, ich glaub genug.“

Sonntag, 10. November 2013

Hat Zwetschgenbaum Benjamin ein Glück



Benjamin war nicht mehr der Jüngste. Mit beinahe 70 Jahren hatte er als Zwetschgenbaum schon ein langes und glückliches Leben hinter sich, fühlte sich dabei immer noch kräftig, war gesund und trug jedes Jahr Früchte, dass es eine Freude war. Und das kam auch nicht von ungefähr, denn die Besitzer des Gartens, in dem er stand, trugen Sorge zu ihm. Jeden November, wenn die Vegetationspause bereits eingesetzt war, schnitt man ihn grosszügig zurück und entfernte die Äste, die lose herunterhingen, sowie die vielen jungen Triebe, die der Entwicklung von starken Haupttrieben hinderlich waren. Zweifelsohne verstanden seine Besitzer, wie man sich um ihn sorgen sollte.

Doch zu Benjamins Glück trug auch der Umstand bei, dass er an einem sonnigen Platz vor einem wunderbaren herrschaftlichen Haus wuchs und direkt in die Küche blicken konnte. Denn so sah er seit mehr als sechzig Jahren, was Generationen dieser Familie aus seinen Zwetschgen zu zaubern vermochten. Und seien wir ehrlich, ist es nicht einfach das schönste auf der Welt, wenn man zum Glück anderer auch etwas beitragen kann? Und macht es nicht stolz, wenn man dafür seine eigenen Früchte liefern konnte?

Wäre ein umtriebiger und einfallsreicher – wenn auch leicht verrückter – Journalist eines Gourmet-Magazines auf die Idee gekommen, ihn, Benjamin, zu interviewen, hätte dieser mit Sicherheit die wunderbarsten Zwetschgenrezepte in Erfahrung gebracht. Doch wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und so liegt es nun an dem Elefanten auf die Leiter zu steigen, Benjamin danach zu fragen und dafür die Früchte zu ernten. 

„Lieber Benjamin, erzähl uns doch mal, welche Zwetschgenleckereien du im Laufe deines langen Lebens schon entstehen sehen hast.“

„Tja, mein lieber Elefant, wo soll ich da nur beginnen? Natürlich bin ich etwas nervös, denn schliesslich ist dies ja mein erstes Interview. Entschuldige also, wenn ich nicht ganz so strukturiert in der Beantwortung dieser Frage vorzugehen verstehe. Aber ich denke, ich erzähl dir einfach einmal frei aus meinen Erinnerungen. 

Meine ersten Erinnerungen habe ich an Magda, die damalige Herrin des Hauses. Sie war eine sehr fröhliche Person und hatte immer ein Liedchen auf den Lippen. Wenn sie mich mit einer langen Stange schüttelte, um die reifen Früchte zu Fall zu bringen, sang sie immer ‚Chumm mir wei go Chriesi günne’, was ich zwar etwas irritierend fand. Aber sie machte die herrlichsten Konfitüren und Gelées, einen wunderbaren Zwetschgenkompott, fein duftende Zwetschgenwähen und ein Zwetschgen Chutney, dem sie mit Zwiebeln, Chili, Essig und Zucker eine scharfe Säure verlieh, welches mit Vorliebe zu einem gebratenen Stück Rindfleisch gereicht wurde.

Als dann Emma, Magdas Tochter, die Herrin im Haus wurde, begann die grosse süsse Periode. Sie war eine wirkliche Künstlerin, wenn es um Kuchen, Torten, Crèmes und Parfaits ging. Aber ihr ganz besondere Spezialität war die Zwetschgentorte, welche sie haargenau wie eine Zuger Kirschtorte machte, dafür aber eben Zwetschgen und Zwetschgenwasser verwendete und mit diesem kleinen Trick alle Gäste immer wieder aufs Neue zu begeistern vermochte.

Nach Emma kam ihr Sohn Lukas an den Herd. Er war ein begeisterter Hobbykoch und liebte Geflügel aller Art. Zum Beispiel mit Zwetschgen gefüllte Wachteln im Ofen gebacken. Zwetschgenknödel mit rosa gebratener Entenbrust. Oder zum Dessert ein Zwetschgenmousse auf mit Zucker gebrannten Mandelsplittern und Sauerrahmeis. Er war eindeutig der üppigste Koch von allen.

Und dann kam schliesslich Lilly. Ach Lilly. Wie war sie begnadet. Wenn sie in der Küche stand, wusste ich, dass mich weder Sturm noch Blitz und Donner davon abhalten konnten, ihre Arbeit am Herz zu bewundern. So zauberte sie zum Beispiel einen würzigen Pulposalat mit Zwiebeln und etwas Petersilie auf einen leichten Zwetschgenschaum, den sie mit einem Rahmbläser auf die Teller applizierte. Oder der halbe Hummer, dessen Fleisch sie mit einem süssen Zwetschgengelée hauchzart überzog. Und dann ihre Emulsion aus Zwetschge und Wildconsommé, welche sie in schmalen Gläsern zu selbst gebackenen Wildterrinen-Chips servierte. Lilly war eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Heute steht Kaspar oft in der Küche. Er wohnt mit seinem Lebenspartner Marco zusammen und kocht all die Rezepte, welche seine Familie in all den Jahrzehnten gesammelt und in ein Buch geschrieben haben. Dort, auf der Anrichte liegt es. Es sieht schon ziemlich speckig aus, aber ich glaube, darin verbirgt sich ein grosser Schatz.“

Der Elefant drehte sich umständlich auf der Leiter um und blickte nun ebenfalls durch das nahe Küchenfenster. Und tatsächlich, da lag ein dickes Buch mit einer handgeschriebenen Etikette. Darauf zu lesen war: „Benjamin, der Zwetschgenbaum, der hat Schätze, man glaubt es kaum.“

Mittwoch, 6. November 2013

Hier kocht Poesie.



Maria stand in der Küche und blickte auf die matte Chromstahlfläche der Anrichte, die wie ein silberner See vor ihr lag. In Gedanken versunken, liess sie die Sonne durchs Fenster ihre hohen Wangenknochen kitzeln und schien die Wärme des Lichts weder auf der Haut noch in den wilden lockigen Haaren zu spüren, die zu einem buschigen Wirrwarr zusammengeknotet waren. In sich eingekehrt, wartete sie lauernd auf einen Einfall zu einem Menü, mit dem sie heute Abend ihre Gäste bezaubern wollte. Und da es Freitag war, musste es Fisch sein, so viel war ihr schon einmal klar.

Plötzlich sah sie aus dem Fenster direkt in die Sonne, als hätte sie gerade eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Die anfänglich hochgezogenen Augenbrauen des Erstaunens entspannten sich schnell und machten einem Lächeln Platz, das sich langsam auf ihrem Gesicht ausbreitete und zu verraten schien, dass die Idee für ihren Küchenzauber nicht mehr weit sein konnte: Tucholsky. Es musste wie ein Gedicht von Kurt Tucholsky sein.

„Ich habe dir alles hingegeben / mich, meine Seele, Zeit und Geld. / Du bist ein Mann – du bist mein Leben / du meine kleine Unterwelt.“

Maria erinnerte sich wieder an dieses melancholische Gedicht, das voller Zärtlichkeit und Wehmut von einer tief empfundenen Liebe und der damit einhergehenden Verletzlichkeit erzählte, weil sich diese Liebe wohl nie gänzlich erfüllen mochte.

„Doch habe ich mein Glück gefunden, / seh ich dir manchmal ins Gesicht. / Ich kenn dich in so vielen Stunden – nein, zärtlich bist du nicht.“

Was wohl dazu passt? Ein Gedicht, das vielleicht in den Zwischenkriegsjahren im Berlin der Zwanziger geschrieben wurde? Einer Zeit, wo die Menschen den kommenden Beinahe-Weltuntergang ums goldene Kalb tanzend vorweg nahmen? Champagner musste auf jeden Fall Teil davon sein. Aber nicht in seinem Glanz und seiner Extrovertiertheit, sondern viel mehr als raffinierter Bestandteil eines Gerichtes.

„Du küsst recht gut. Auf manche Weise / zeigst du mir, was das ist: Genuss. / Du hörst gern Klatsch. Du sagst mir leise, / wann ich die Lippen nachziehn muss.“

Ein Champagnersauerkraut mit Meerfischen wäre genau das Richtige, lächelte Maria. Denn dieses Gericht hatte für sie schon immer eine Art Zwiespältigkeit dargestellt. Eleganz und Archaik auf einem Teller vereint.

„Du bleibst sogar vor anderen Frauen / im gut gespielten Gleichgewicht; / man kann dir manchmal sogar trauen... / aber zärtlich bist du nicht.“

Und dazu würde sie natürlich Salzkartoffeln servieren, die sie aber kurz in geschmolzenem Zucker karamellisieren würde, um zwischen der Säure des Sauerkrauts und dem archaischen Geschmack der verschiedenen Meerfische eine überraschende süsse Verbindung zu schaffen, die mit etwas Vanille und Kardamom zu einer aussergewöhnlichen Harmonie werden dürfte.

„O wärst du zärtlich! / Meinetwegen / kannst du sogar gefühlvoll sein. / Mensch, wie ein warmer Frühlingsregen / so hüllte Zärtlichkeit mich ein!“

Maria strahlte nun übers ganze Gesicht, denn sie hatte den Hauptgang soeben gefunden. Alles andere war nur noch eine Frage der Komposition. Denn Vorspeise, Zwischengang und Nachspeise würden sich nun ganz leicht daraus ableiten lassen. Dafür würde ihr der Markt, den sie gleich aufzusuchen beabsichtigte, mehr als genügend Optionen bieten. Denn genau das war es, was ihre Kochkunst ausmachte. Sie brauchte einen Anfang. Einen Einfall. Ein Gedicht.

„Wärst du der Weiche von uns beiden, / wärst du der Dumme. Bube sticht. / Denn wer mehr liebt, der muss mehr leiden. / Nein, zärtlich bist du nicht.“

Samstag, 2. November 2013

Barockes Gaumenerlebnis

Barock ist hellblau, zartlila und chamoisfarben. Er glänzt als goldene Verzierung oder manierierte Stuckatur vom Himmel herab und leuchtet mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages in einen blass blauen Himmel hinein, unter dem sich verspielte Wellen eines türkisfarbenen Meeres auf einer Linie kunstvoll kräuseln. Barock ist auch die Klangwelt von Bach und Händel, in denen die Freude und das Leid der Menschen zur vollkommenen Schönheit werden. Wo Tod und Geburt sich versöhnend die Hände reichen, um als zartbitterer Trost dem Leben einen Sinn zu geben. Barock schmeckt nach gebratenen Rebhühnern in zerlassener Butter mit Estragon. Nach mit Pflaumen gefüllten Tauben, die man in vergorenem Apfelsaft und der Beigabe von aufgequollenen Rosinen mariniert hat. Und natürlich auch nach zuckrigem Backwerk, das einen Hauch von Butter, Vanille und Kreuzkümmel in die Nase steigen lässt. Barock ist die materialisierte Üppigkeit. Pralle Hintern, schneeweisse Frauenbrüste und beleibte Kardinäle mit Gold überwucherten Fingern. Barock ist der Apfel der Verführung. Ausgelassenes Schweinefett in Tontöpfen. Weiss gepuderte Lockenköpfe. Barock ist die trügerische Vorstellung von Luxus und Pomp, hinter der sich ganz andere Wahrheiten verstecken. Barock ist eine Realität, die traumwandlerisch neben tiefsten Abgründen einher geht und nur darauf wartet, mit gnadenloser Gewalt vom Sockel gestossen zu werden. Barock ist wie ein letztes Abendmahl.