Samstag, 28. Dezember 2013

Sonntagsbraten im Neuschnee




Die satt verschneiten Berghänge liegen in der Sonne, während unser tiefgekühlter Atem als kleine Wolken aus unseren Mündern steigt und sich vor unseren Augen ganz langsam um die eigene Achse dreht. Ein Nachmittag auf den Schlitten hat uns das Lachen in unsere Körper bugsiert. Und die kaum mehr von der Kälte spürbaren Finger in unseren wollenen Fäustlingen brennen und lassen sich kaum noch bewegen. Ja, nicht einmal die Stricke, welche unsere Schlitten ziehen, lassen sich richtig greifen, sondern sind nur eine spürbare Ahnung in unseren Händen.

Die Weihnachtsferien haben eben erst begonnen und Frau Holle hat uns soviel Schnee geschickt, dass vor den Häusern ganze Berge davon bis zu den Fenstern im ersten Stock reichen. Die Gassen und Strässchen im Dorf sind nur noch weisse Rinnsale, welche sich allerorten um die Ecken der Häuser winden und keinen Ausweg lassen. Aus den Kaminen steigt der Rauch und bereits sind in den ersten Fenstern Lichter zu sehen.

Mit meinem kleinen Bruder an der Hand stapfe ich durch unsere Strasse, die Uhr schlägt halb Fünf und die Sonne ist jetzt bereits hinter den Häusern und dem nahen Wald verschwunden. Als wir kaum noch 50 Meter von Zuhause entfernt sind, steigt uns schon der Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase. Es ist wieder soweit, Mutter hat heute ihren Winterbraten gemacht, der jetzt im Ofenrohr vor sich hin gart. Ein herrliches Stück vom Kalb, dass in einer dunklen Sauce mit Datteln und eingelegten Pflaumen zu einem kleinen Weihnachtswunder wird. Leicht süsslich, würzig und saftig. Mit Kartoffelstock, Rüben und Kohlrabi. Weihnachten steht vor der Tür. Und jetzt auch wir. Durchfroren und glücklich, erwartungsvoll und müde. Ja, endlich haben die Ferien begonnen und uns das Glück nach Hause gebracht.


Freitag, 20. Dezember 2013

Weihnachten in Indien



Es war im Dezember 1876, als wir auf dem Rücken unserer Dromedare vor einem Palast in Jaipur angekommen waren und die Diener sich wie lautlose Tiger geschmeidig um unser Gepäck kümmerten, während der Herr des Hauses, Sir John Collins, uns mit offenen Armen empfing und willkommen hiess. Wir waren als Forschungsexpedition für ihre Majestät Königin Victoria unterwegs – und das sich im Bau befindlichen Natural History Museum in London – und sollten die Flora und Fauna Rajasthans erkunden. Unsere Aufgabe bestand darin, Zeichnungen anzufertigen und verschiedene Exemplare pflanzlichen und tierischen Ursprungs zu sammeln, zu bestimmen und zu katalogisieren, um diese dann nach Grossbritannien verschiffen zu lassen.

Um aber während der Weihnachtszeit nicht ganz jenseits zivilisatorischen Tuns unser Dasein fristen zu müssen, lud uns Collins, der Vetter von Lady Clementia Pringsley of Walshire – einer Freundin meiner Cousine Jane-Paulina – zu sich ein, um seinen und meinen guten Beziehungen in der englischen Gesellschaft die gebührende Ehrerbietung widerfahren zu lassen.

John war ein kerngesunder Kerl von 40 Jahren, der sich hier in Indien schon so manchen Orden ergattert hatte. Vor allem aber auch ein Mann, der im Rufe stand, weitherum über die besten Köche zu verfügen, was sich, zu unser aller Freude, auch tatsächlich bewahrheiten sollte.

Zu Heiligabend, als wir schon drei Tage die Annehmlichkeiten von Federbetten, Nachmittagstee und Gingerbread genossen hatten, versammelten wir uns an einer langen Tafel, die üppig mit Goldbesteck und Kristallgläsern gedeckt war. In jeder Ecke des Saales standen Bedienstete, die uns mit grossen Fächern aus Pfauenfedern Luft zufächelten, während weiss behandschuhte Inder als Butler in Reih und Glied wie übergrosse Nussknacker dastanden. Neben unserer kleinen Expeditionsgruppe waren auch noch andere britische Offiziere und deren Gattinen anwesend, welche dem ganzen Weihnachtsfest doch noch eine etwas charmante Note zu verleihen vermochten.

Der Zauber eines indischen Gastmahls für uns Briten liegt zweifellos an der Farbigkeit und der Präsentation der Gerichte wie auch an der geschmacklichen Herausforderung, unserer, von der englischen Küche gelangweilten, Zunge etwas Neues zu erschliessen. Und genau das geschah an diesem Abend.

Zuerst gab es einen pochierten Kabejau auf einem Rote-Beete-Kuchen mit Kasundi-Senf und gebratenen Langustenschwänzen, begleitet von einer Koriandermayonnaise.

Dann wurden uns auf Holzkohle gegrillte Rebhuhnschenkel mit einem Chutney aus gedörrten Mangos, Erdnüssen und Heidelbeeren serviert.

Als dritte Vorspeise lockten im Tandoori gemachte Gemüse mit zerstossenen Meerrettichsamen, was nicht nur unsere Sinne, sondern auch unsere Nasen befreite.

Als erste Hauptspeise erwartete uns zuerst ein Lammcurry mit schwarzen Linsen und Reis, der mit Gewürzen und Hölzern geräucht wurde.

Dann wurde uns als zweite Hauptspeise auch noch ein Seeteufel mit Limonenreis an einer Mango- und Koriandersauce serviert.

Zweifelsohne hatte sich Sir John Collins damit nicht lumpen lassen und uns ein Abendessen zu Weihnachten beschert, das wie indische Tänzerinnen durch unsere wildesten Fantasien tanzte. Aber es lehrte uns auch Achtung und Demut vor einem Land, dass wir zwar erobert, aber irgendwie doch nie in seiner Komplexität und Vielfalt verstanden haben.

Dienstag, 17. Dezember 2013

Unphilosophisches über eine Käseschnitte



Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk. Das Scheiten des Holzes klingt dumpf ins stille Tal. Die Kälte des Schnees hat alle Geräusche gedämpft. Einzelne Flocken schweben wie Daunenfedern vom Himmel herab. Und Konrads Atem keucht leicht in der fast gefrorenen Luft, während seine Brissago im Mundwinkel hängt, als würde sie bald ihren Geist aufgeben. Die Glut an der Spitze ist nur noch ein kleiner Punkt, wie ein Nadelköpfchen, das auf wundersame Weise regelmässig wie ein Licht einschaltet und auschaltet, einschaltet und ausschaltet. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk.

Der Dezember hat den Schnee nun auch ins Hinterland gebracht und die Arbeit im Wald, auf der Wiese und am Bach unter einer weissen Decke zugedeckt, so dass nur noch die Kühe im dampfenden Stall, das Scheiten des Holzes, das Flicken von Werkzeug und das Kochen eines bescheidenen Mahls den Alltag bestimmen. Tock, tock, tock, krrrrk.

Über 40 Jahre schon blicken Konrads wachen blauen Augen über dieselben umliegenden Hügel, den immer gleichen Himmel, lauschen seine Ohren dem unregelmässigen Plätschern des Brunnens und dem Muhen der Kühe. Weihnachten steht vor der Tür, die Tannen im Wald und am Tisch in der Stube nur ein Stuhl. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk.

Wer fast sein ganzes Leben alleine gelebt hat, hat mit dem Alleinsein kein Problem. Man hat sich daran gewöhnt. Und man möchte sich an nichts anderes mehr gewöhnen. Tock, tock, tock, krrrrk. Ausserdem kann man tun und lassen, was man will. Und man will ja so oder so nur das tun, was man auch kann. Mehr zu wollen, wäre ein Frevel. Und wahrscheinlich der Mühe nicht wert. Tock, tock, tock, krrrrk.

Ausserdem würden die zwei alten und in Milch eingelegten Scheiben Brot nur für zwei Käseschnitten reichen. Also für nur eine Hauptmahlzeit eines Mannes. So viel konnte er dann schon noch rechnen. Ja, das Alleinsein war schon recht. Denn Teilen war nicht Konrads Stärke. War es noch nie. Tock, tock, tock, krrrrk. Ob es noch Paprikapulver hat? Tock, tock, tock, krrrrk. Appenzeller hatte es auf jeden Fall noch genug. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk.

Freitag, 13. Dezember 2013

Die grünen Eulen



Die grünen Eulen fliegen wieder. Wenn die klirrenden Dezembernächte voller Rentiere und Sternenstaub sich in die Köpfe kleiner Kinder setzen. Wenn Engelshaar wie Schneeverwehungen übers Land schwebt und gläserne Vögel auf den Zweigen der Weihnachtsbäume stumm zwitschern. Die grünen Eulen fliegen wieder.

Die grünen Eulen fliegen wieder. Wenn der Küchentisch voller Mehl ist, die Töpfe von buttrigen Spitzbuben bewohnt werden und die silbernen Schokoladenpapiere wie verheissungsvolle Blätter eines Tagesbuches Geschichten von Glück und Freude erzählen. Die grünen Eulen fliegen wieder.

Die grünen Eulen fliegen wieder. Wenn Änischräbeli und Zimtstern zu den warmen Klängen eines alten Akkordeons tanzen. Wenn Nussknacker und Katze sich ein Kissen teilen. Und wenn der Kerzenschein im Leuchten der Augen sich spiegelt und der Himmel über dem Kachelofen voller Figuren aus Salzgebäck hängt. Ja, dann fliegen die grünen Eulen wieder.

Montag, 9. Dezember 2013

Schlawiner Beat mag Austern nicht



Das Licht im Lift war unappetitlich grell, so dass Beat jede Pore seines leicht aufgedunsenen Gesichtes sehen konnte. Die Nase, wie immer leicht gerötet und mit winzigen blauen, aber gut sichtbaren Äderchen durchzogen, sass auch heute nicht so gerade im Gesicht, wie er es gern gehabt hätte. Und die Tränensäcke, wie auch die rundlichen Wangen, hatten den Kampf gegen die Schwerkraft schon lange verloren und zogen seine Visage talabwärts und zeigten dabei auf das etwas zu weit offen getragene Hemd und mit den gutgemeinten, aber eben doch zu spärlichen Brusthaaren darunter, von denen wiederum nur eine etwas zu gross geratene Goldkette abzulenken vermochte. Ja, dachte Beat, eigentlich sehe ich gar nicht so gut aus.

Aber was soll’s? So lange er bei seinen Freunden noch als Womanizer galt und auch bei den Frauen selbst als charmanter, wenn auch etwas drolliger Kerl seine Erfolge verbuchen konnte, war die Welt doch irgendwie noch in Ordnung. Und es war nicht etwa so, dass er sich dafür keine Mühe gab. Im Gegenteil, Beat tat sehr viel dafür, den Frauen zu gefallen. Er machte Komplimente, die durchaus ernst gemeint waren, hatte ein gewinnendes Lächeln und wusste die Frauen auch stets mit seinem Savoir-vivre zu überraschen. Denn Beat hatte genau die Balance gefunden, auf die Damen einen weltmännischen Eindruck zu hinterlassen, ohne dabei zu arrogant oder zu lächerlich zu wirken. Dies schaffte er zweifellos, in dem er sich selbst mit leiser Selbstironie geschickt aus der Schusslinie nahm und keine Angriffsfläche bot.

Wenn nur nicht diese Austern wären. Vor Jahren hatte er damit angefangen, neue temporäre Eroberungen mit einem Austernessen zu bezirzen. In der absoluten Gewissheit, dass dies einem schlechten Klischee entsprach, aber eben immer noch funktionierte, lud er in den letzten Jahren Marianne, Klara, Judith, Rita, Brigitte, Stefanie, Claire, Simone und Helen dazu ein und erzählte ihnen alles Geistreiche über Austern, was bei einem Tauchgang in Wikipedia herauszuholen war. Und natürlich hingen die Damen ihm an den Lippen, waren begeistert von seinen weitreichenden kulinarischen Kenntnissen und überwanden sich sogar, dieses schlabbrige und nach Hafenbecken schmeckende Etwas mit ein paar Spritzern Zitrone hinunterzuwürgen. Denn Beat war schliesslich ein netter Kerl, grosszügig und charmant, so dass man ihn nicht enttäuschen wollte. Und weil man, wie auch er, entschlossen war, die kommende Nacht nicht alleine im Bett zu verbringen, musste es einfach sein. Also runter damit. So einfach war das.

Als die Lifttüre sich öffnete und Beat in die kleine Vorhalle trat, während draussen der neue Tag die Sonne über den Horizont wuchtete und im vierten Stock über ihm Bettina noch schlafend in ihrem Bett lag, murmelte er zu sich selbst: Es ist Zeit, dass ich das auch einmal ohne Austern hinkriege. Ich mag Austern nicht. Sie sind mir zuwider. Und ich bin mir zuwider. Ich muss mir etwas Neues einfallen lassen. Aber nie wieder Austern.

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Franziskas Ausraster



Sie müssen wissen, Franziska (nein, Fränzi mag sie explizit nicht genannt werden) ist ein netter Mensch. Sie trägt immer ein Lächeln im Gesicht, ist leidenschaftliche Primarlehrerin, fürsorgliche Mutter von zwei Buben (Jonas 1 und 2) und eine warmherzige Partnerin für ihren Mann, den Jürg. Franziska wohnt mit ihrer wunderbaren Familie in einem netten Reiheneinfamilienhaus in Winterthur, lässt sich alle fünf Wochen ihren asymmetrischen Haarschnitt erneuern, trägt vorzugsweise knallrote Wildlederschuhe mit seitlichen Reissverschlüssen (weil es noch keck aussieht), bastelt ihren Ohrenschmuck selber und hat ihren Jürg dazu gebracht, im Restaurant jeweils das Dessert mit ihr zu teilen (nicht etwa, weil sie geizig wären, oder Jürg so ein Mini-Caramelköpfli nicht selbst zu bewältigen vermöchte, sondern weil es ein Ausdruck von Sozialkompetenz ist, wenn man sich Dinge teilen kann). Ausserdem arbeiten Jürg wie auch sie selbst nur 80 Prozent, weil sie das ihrer Beziehung einfach gönnen wollten und weil es auf den Wanderwegen im Tösstal ja jedes Mal immer wieder etwas Neues zu entdecken gab.

Franziska ist auch eine gute Köchin. Und vor allem im Herbst, wenn all die wundervollen Gemüse im eigenen Garten (darunter auch drei Kürbissorten!) geerntet werden können, dann lebt sie auf. Dann sieht man sie für zwei Wochen abends praktisch nur noch in der Küche, um all die herrlichen Gewächse einzukochen, zu gelieren, im eigenen Dörrofen zu dörren oder zu herrlich exotischen Chutneys zu machen, um sie dann alle an einem Stand bei ‚Afro-Pfingsten’ , dem Festival für Afrika und Worldmusic, für einen guten Zweck zu verkaufen.

Wofür aber Franziska tatsächlich legendär ist, ist ihre Kürbissuppe. Denn diese ist nicht nur eines ihrer Lieblingsrezepte, sondern auch eine Hommage an die Zeit in Indien, als Jürg und sie, noch ledig, gemeinsam zwei Monate in einem Aschram verbrachten und dabei beim Meditieren nicht nur zu sich, sondern auch zueinander fanden. Dort hatte sie auch das Zubereiten von Speisen mit Gewürzen gelernt, die hier in der Schweiz nicht so gebräuchlich waren; zumindest nicht in dieser Kombination. Darum verwendete sie für ihre Kürbissuppe ‚Ganesha’, wie Franziska ihre Eigenkreation nannte, Kokosnussmilch, Kardamom, Koriander, Sternanis, viel Curry und Kreuzkümmel. Und für diese Suppe war sie einfach legendär. Das war ihr Ding.

Als Jürg und sie letzten Samstag bei ihren Freunden Rita und Reto eingeladen waren, geschah aber das, was nie hätte geschehen dürfen. Ihre Freundin, mit der sie ins Pilates und in die Sauna ging, und mit der sie zusammen auch in einer Blockflötengruppe spielte, hatte es gewagt, Franziskas Suppe nachzukochen (was ihr zum grossen Ärger auch noch perfekt gelang, wie Jürg fand). In diesem Moment hatte sich Franziska völlig vergessen und verlor die Kontrolle. Das erste Mal seit Jahren war in diesem grauenvollen Augenblick kein Lächeln mehr auf ihrem Gesicht zu sehen. Sondern nur ein schmaler Strich zwischen zwei zusammengepressten Lippen. So, ja so hatte sich Franziska schon lange nicht mehr gehen lassen. Es war zweifelsfrei ein Ausraster gewesen.