Mittwoch, 26. Februar 2014

Zu Tisch mit Pierre Bonnard



Wenn die letzten Februartage in der Stadt sich vom Winter schon verabschiedet haben und nur noch Regen bringen, dann blicke ich manchmal aus dem Fenster, wo ich die immer noch kahlen Bäume mit Schwärmen von Krähen sehe. Wie Geisterarme strecken sich die Äste gegen den dunkeln Himmel, der sich stählern grau wie ein altes Zirkuszelt über den Häusern wölbt und die Sonne und das Licht nicht bis zu den Gärten und Strassen durchlässt. Wie ein fades Aquarell, vom Nieselregen mit einem Schleier versehen, werden die Farben zu einem düsteren Spektrum, als wären die Tage, das Jahr und die Zeit überhaupt stehengeblieben. Wie ein Farbfoto, das auf ganz eigenartige Weise und unnatürlich verblasst ist.

An solchen Februartagen blicke ich in meiner Fantasie in die Ferne, über die Alpen hinaus, bis hin zum Mittelmeer, wo die Sonne auf dieser Welt doch noch ein Plätzchen gefunden hat. Denn hier sind die Farben warm und kräftig, variieren zwischen verschiedenen Lila- und Orangetönen und zeigen mir das sprichwörtlich bunte Leben. Das Licht der Sonne lässt hier die Mauern in Ocker und Gelb aufleuchten, Palmenzweige spenden einen satten dunkelgrünen Ton, und die Tischtücher mit rot-weissen Karos lachen mir hör- und sichtbar entgegen.

Es ist die Welt von Pierre Bonnard, die mich nun schon seit 30 Jahren immer wieder begleitet. Diese Fülle an Leben und Schönheit, diese Farben des Lichts, diese gemalten Momente gepflegter Langeweile. Denn damals, im Jahr 1984, stiefelten wir mit unserem Zeichnungslehrer durch die grossen Räume des Zürcher Kunsthauses, das Pierre Bonnard eine grosse Einzelausstellung gewidmet hatte. Das Jahr, für welches George Orwell nichts Erfreuliches prophezeit hatte, neigte sich schon dem Ende zu und hinterliess Ereignislosigkeit und Gewohnheit. Und draussen lag schon der erste Schnee.

Heute, 30 Jahre nach diesem impressionistischen Feuerwerk, das sich nachhaltig in meine Seele gebrannt hat, stehe ich also wieder am Fenster, blicke hinaus in den verregneten Februartag und sehe diese Farben. Auf wunderbare Weise kann ich diese Bilder sogar riechen: frisch gebrauter Kaffee, gebackene Brötchen, Lavendel, Kamille, Pinienholz...und das Meer. Der Tisch ist gedeckt, die gläserne Tür zum Garten geöffnet und auf dem Stuhl sitzt schon die Frau, die keinen Namen hat. Denn in den 30 Jahren, seit sie mich auf diesen Bildern begleitet, habe ich ihr nie einen Namen gegeben, auch wenn ich weiss, dass es sich in Wirklichkeit um die Gattin Bonnards handelt. Aber die Bilder in meiner Fantasie sind eben meine Bilder, tragen meine Namen und zeigen meine Erinnerungen, auch wenn ich nichts dafür getan habe. Und ich weiss auch, dass ich mich an diesen Tisch setzen werde, ohne mich mit der Frau zu unterhalten. Ich möchte einfach nur dasitzen und etwas frühstücken. Ich möchte mit diesen Bildern für mich allein sein. Und mit Bonnard.

Sonntag, 23. Februar 2014

Holderzonne à la Chanel










Babette und Elsi waren zwei junge Appenzeller Mädchen, die im innerrhodischen Brülisau zur Welt kamen, dort zur Schule gingen, von den Eltern und dem Pfarrer streng katholisch erzogen wurden und schon in jungen Jahren verheiratet werden sollten. Denn obwohl man auf dem Land um 1918, als der Krieg und die Spanische Grippe noch am wüten waren, nicht gar so hungern musste, wie das damals in der Stadt oft der Fall war, waren die Inauens und die Fässlers trotzdem nicht auf Rosen gebettet und hatten dafür zu sorgen, dass ihre heiratsfähigen Töchter nicht allzu lange ihren Löffel in die Suppe am Familientisch hielten. Das hatte in keiner Weise mit einem Zuwenig an Liebe zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit einem Zuwenig an Rappen sowie einem Zuviel an Fortpflanzungsgelegenheiten. Denn nach den Töchtern kamen noch mehr Töchter und – seien wir ehrlich – mit etwas Glück auch noch ein paar ‚Buebe’.

Doch während sich Inauen Sepp und Fässler Emil, ein jeder für sich, alle in Frage kommenden potenziellen Schwiegersöhne durch den Kopf gehen liessen, dachten Babette und Elsi gar nicht daran, sich wie Kühe an den Bestbietenden verschachern zu lassen. Denn sie waren beste Freundinnen von Kindstagen an und hatten sich schon als kleine ‚Meedle’ geschworen, sich von nichts und niemanden trennen zu lassen. Komme, was da wolle.

Nun muss man wissen, dass die eigene Meinung einer jungen Frau damals nicht sehr viel galt. (Viele sagen, dass sei in Appenzell auch heute noch so.) Und das wussten auch unsere beiden besten Freundinnen. Und so kam es, dass es in Brülisau nicht zu den gewünschten Verheiratungen kam, sondern zum unverfrorenen Reissaus zweier Mädchen, die sich ihren Eltern, den Nachbarn, dem Pfarrer, dem Herr Lehrer und allen anderen, die glaubten, in einem Dorf die Nase in alles hineinstrecken zu dürfen, widersetzten. Also, packten sie eines Nachts heimlich ihr Bündel, was weiss Gott wenig genug war, und machten sich gemeinsam auf den Weg in die weite Welt.

Das war zuerst St. Gallen, wo sie als Stickerinnen 12 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche, ihr erstes eigenes Geld verdienten. Dann, als ihre Väter versuchten, sie nach Hause zu prügeln, flohen sie nach Winterthur, wo sie als Haushaltshilfe und als Köchin bei einer Fabrikantenfamilie unterkamen. Und auch wenn sie die Familie hier anständig behandelte, sie beide im gleichen Zimmer schlafen konnten und ihnen so manche Widrigkeit der damaligen Zeit erspart blieb, wollten Babette und Elsi hier nicht Wurzeln schlagen, sondern ihrem Wunsch, die weite Welt kennenzulernen, in die Tat umsetzen. So kam es, dass sie im Jahre 1923, nach einer fünfjährigen Flucht aus der Enge der Heimat, in Paris ankamen und dort ihr Glück als Näherinnen versuchen wollten.

Auswandern ist immer mit einem starken Heimatgefühl verbunden. Denn man flieht das Bekannte, weil es einem zu nahe kommt und zu etwas Bedrückendem wird. Nicht nur in existenzieller Hinsicht, sondern auch bezüglich der emotionalen Erlebenswelt. Viele, die auswandern, leiden nicht an der Tatsache, dass sie in der Heimat nicht verstanden werden, sondern daran, dass sie ihre Heimat nur aus der Ferne lieben und verstehen können. Und auch wenn sie sich an einem neuen Ort niederlassen, dort eine Karriere machen, ein Leben aufbauen und glücklich werden, so ist doch immer auch ein Teil mit der Heimat verbunden. Vielleicht aus Rührseligkeit. Vielleicht aus dem Wunsch, die Kindheit und das Vergangene nicht ganz verloren zu wissen. Vielleicht aber auch ganz einfach aus Liebe.

Und unsere beiden ‚Meedle’? Sie hatten grosses Glück. Sie landeten im Atelier einer gewissen Mademoiselle Chanel. Dort wurden sie nicht nur sehr bald zu Atelierleiterinnen, sondern auch zu zwei fürsorgliche Damen, die für viele junge Frauen zur Familie wurden. Und wenn man das Glück hatte, hin und wieder bei ihnen zu Hause an der Rue Freycinet eingeladen zu werden, dann servierten sie wunderbaren fladenartigen Kuchen mit Birnenfüllung, Holundermus mit Vanille-Eis und einen Käse, dessen Geruch eine wahre Herausforderung darstellte, und der ihnen jedes Frühjahr von einem Stoffhändler aus der Schweiz mitgebracht wurde. Wenn man sie dann fragte, woher diese Genüsse stammen, blickten sich Babette und Elsi an und die eine oder die andere von ihnen erwiderte mit traurigen Augen und einem Lächeln: „Ich glaube, daran können wir uns nicht mehr erinnern.“

Mittwoch, 19. Februar 2014

Zwiebelsuppe im Dreivierteltakt



Wolfgang Amadeus Mozart sass mit seinem Vater Leopold in einer geschlossenen Kutsche und blickte mit einem Lächeln auf dem Gesicht in den regnerischen Frühlingstag. Da die französischen Strassen gewohnheitsmässig nur sehr schlecht ausgebaut waren, wurden das Wunderkind und sein ehrgeiziger Vater kräftig durchgeschüttelt. Doch das spielte eigentlich keine Rolle, denn es ging heimwärts.

Hinter ihnen lag die Stadt Paris und damit auch ein mehrwöchiger Aufenthalt, während dem Wolferl wie ein kleines Wildkätzchen aus der Menagerie beinahe dem ganzen französischen Adel vorgeführt worden war. Dabei hatte er abwechslungsweise mit der Geige, dem Cembalo und dem Pianoforte die hiesige Haute-Volée zu begeistern, was seinem Vater Leopold, eigentlich selbst ein ganz passabler Musiker, jeweils ein höchst zufriedenes Grinsen auf das Gesicht zauberte. Und da der kleine Mozart die Musik selbst über alles liebte, liess er diese Vorführungen über sich ergehen und gab stets das Beste, was insofern nicht schwierig war, weil er schon damals ein leuchtender Stern am Himmel war, der vor noch nicht einmal acht Jahren über Salzburg das Licht der Welt erblickt hatte. Nichtsdestotrotz wurde es ihm mit der Zeit dann doch etwas zu viel, dass der Vater ihn unter vier Augen immer mit strenger Hand behandelte und ihn herumkommandierte, während er ihn der ‚noblen Gesöllschoft genüber’ wie ein kleines putziges Albino-Tigerchen auf den Dompteurenschemel stellte, um sein Genie zu präsentieren.

Doch jetzt sassen sie endlich in der Kutsche und waren unterwegs nach Hause. Und wenn sich auch Wolferl mit ganzem Herzen auf Salzburg, die Mutter und die Schwester freute, so waren es doch gerade jetzt nicht diese Umstände, die seine Augen strahlen liessen, sondern die Tatsache, dass er noch vor einer halben Stunde in einer Schenke eine kräftige Zwiebelsuppe genossen hatte, mit deren Hilfe er sich bei seinem Vater auf unschuldigste Weise für all die kleinen Plagen der vergangenen Tage würde rächen können. Denn so viel war sicher: Wolfgang Amadeus Mozart war nicht nur ein genialer Musikus, sondern auch ein aussergewöhnlich begabter Furzer. Und da der Regen viel zu stark war, um die Fenster herunterzukurbeln und frische Luft herein zu lassen, und der Vater viel zu ungeduldig, um die Kutsche anhalten zu lassen und seinen Sohn zum Ausfurzen vor die Tür zu setzen, stand einem längeren Furzkonzert in mehreren Sätzen nichts mehr im Wege. Und ja, er spürte es schon, die Ouvertüre würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und mit einem kräftigen Crescendo eröffnen.

Sonntag, 16. Februar 2014

Schneewittchen, das Donut-Monster

„Oh mein Gott, ich kann es einfach nicht glauben! Da kommt Schneewittchen. Voll krass. Und dahinter gleich auch noch Goofy. Wow! Und schau mal da, Mann, wenn das nicht der Hammer ist, da kommt auch noch Miss Piggy mit so einem komischen Pinguin-Watschelgang und schwingt ihre Mähne hin und her, als müsste sie etwas in der Luft an ihrem Hinterkopf wegfegen. Waaahhhhhnsinn. Ich glaube, ich spinne total. Und der kleine Junge da, mit den Affen, wer ist das? Mowgli? Ist das tatsächlich Mowgli aus dem Dschungelbuch? Ich fall gleich in Ohnmacht. Aber so was total von in Ohnmacht. Ob der einmal für mich tanzt? Du weisst schon, mit dem Bären, das fänd ich total geil...schubidu...schubidu...I wanna be like you und so. Oh, ich bin ja so verdammt scheissglücklich. Hey! Hey du, schau mal da nach links. Da kommt Mickey Mouse. Voll abgefahren. Was hat der denn für Ohren? Die sind ja so was von rund. Sein verdammter Kopf besteht ja nur aus drei Kreisen. Wow. Total irre. 

Ooohhhhhhh...was bin ich müde. Aber ich kann jetzt nicht einschlafen, sonst verpass ich ja die ganze Chose. Und siehst du den Grünen dort? Der sieht aus wie dieser Frosch aus der Muppets-Show. Oder ist es Peter Pan? Die grünen Strumpfhosen sind ja total geil. Der sieht ja aus wie eine Transe, die auf Lady Gaga macht. 

Mps...mps...oohhmm...ist mir gerade schlecht. Ich glaube ich muss gleich mal kotzen. Oh – mein – Gott. Ich bin so was von durchgeknallt. 

Aber ich darf mich jetzt nicht gehen lassen, denn da kommen gerade die sieben Zwerge, scheisse Mann, das sind doch tatsächlich die sieben Zwerge. Hüpfi, Hopsi, Knalli und wie sie noch heissen. Wow, ich war schon als kleiner Junge immer ihr grösster Fan. Ob ich sie wohl mal streicheln gehen darf? Ich meine, sie sehen nicht böse aus. Ich würde sie so gerne in die Arme nehmen...so, so, so gerne. Hicks...hicks...hicks. Ich bin so was von kaputt. 

Uiuiuiuiui, ich glaube, das mit diesem Flower power Donut war eine suboptimale Idee von dir Danny. Ich habe dir doch gesagt, dass ich sie lieber mit Schokolade mag. Danny? Hey Kumpel, schläfst du etwa? Du kannst doch jetzt nicht einfach schlafen, während ich hier auf der Parkbank gerade das ganze verfickte Disney-Land anschauen muss. Warum hast da du nur so viel Gras in die Donuts getan? Habe ich dir nicht gesagt, hey Alter nimm mal etwas weniger von dem Zeug? Klar habe ich das. Und jetzt schläfst du einfach neben mir ein, während Tick, Trick und Track vor mir einen Flamingo tanzen. Hey Danny, wach auf. Lass mich nicht allein mit Schneewittchen. Schneewittchen kann so gemein sein. Bitte Danny, wach wieder auf. Bitte, bitte.“

Mittwoch, 12. Februar 2014

Das Geheimnis unserer Fasnachts-Chüechli



Als einäugiger Pirat stand ich erwartungsvoll zwischen Indianer, Clowns, Kaminfeger, Mariakäfern, Cowboys, Astronauten, Prinzessinnen und Frottee-Kätzchen am Bahnhof, schwang meinen, aus einer Spanplatte gefrästen, Krummsäbel und bedrohte gerade meinen besten Freund Koni, der als Mohr aus dem Morgenland verkleidet war. Während er einen aus glitzerigem Stoff genähten Turban und farbige Pluderhosen trug, war ich mit meinem blau-weiss gestreiften T-Shirt, dem alten Gilet von Grossvaters Hochzeitsanzug, einer echten schwarzen Augenklappe und einem riesigen schwarzen Schlapphut viel cooler angezogen als er. (Doch beste Freunde sind ja dazu da, dass sie nur die Zweitbesten sind. Vor allem, wenn es darum geht, an der Fasnacht einen Preis für die beste Verkleidung zu gewinnen, denn beim Skifahren war mir Koni weit überlegen.) Zudem verfügte ich noch über Bartstoppeln, die mit dem Kajalstift meiner Mutter aufgemalt wurden und die offen gestanden fast schon Zebrastreifen glichen, welche meine Wahrnehmung bezüglich Männlichkeit, Alter und Furchterregung doch ziemlich ins Reich der Wünsche katapultierten. (Aber ein kleiner Junge ohne Illusionen ist eine verlorene Seele. Und das war ich nie.)

Vor der bunt verkleideten Kinderschar formierte sich die Dorfmusik – die alle als Clowns angezogen waren und rote Nasen aufgesetzt hatten – in vier Fünferreihen (das musste doch genau zwanzig geben?) und begann zu spielen.

Tamara, ein Nachbarsmädchen, das als Elfe mit viel Tüll und einem Krönchen verkleidet war, stiess mir ihren Ellenbogen in die Seite und zeigte auf den Mann mit der grossen Tuba: „Du Fredi, dieser Clown mit der grossen Trompete, der muss dann aber schwer tragen.“

Ich lächelte sie an und erwiderte mit einer etwas verstellten Stimme, die sich wohl wie ein gescheiterter Stimmbruch anhören musste: „ Das ist doch der Baumann, der Bäckermeister. Der hat einen genug breiten Rücken und wird schon nicht zusammenbrechen. Und das ist keine Trompete, sondern eine Tuba.“

„Ach so“, sagte Tamara staunend und fuhr fort, „hat der denn in der Backstube genug Platz für diese Tuba?“

Ich schaute sie etwas schräg an und fragte mich gerade, was sich dieses Mädchen die ganze Zeit über für Fragen stellte. Dann grinste ich und sagte zu ihr: „Weisst du, diese Tuba braucht der Baumann in der Bäckerei. Was glaubst du denn, wie er sonst die Fasnachts-Chüechli machen würde?“

Tamara blickte mich ganz geschockt an. „Hhmmmm?“

„Klar doch“, fuhr ich fort, „er wirft die runden Chüechli in die Höhe, wie ein Omelette, und beginnt dann fest in die Tuba zu blasen. Dadurch schweben dann die Chüechli in der Luft und beginnen zu flattern. Was glaubst du denn, von was die feinen Fasnachts-Chüechli ihre Form haben?“

Montag, 10. Februar 2014

Der Lohn der Arbeit



Wenn man auf dem Vorplatz seines englischen Schlosses steht und Arthur dem Fahrer (sie heissen immer alle Arthur) dabei zuschaut, wie er deinen alten Rolls Royce auf Hochglanz bringt, in dem er diesen mit einem Hirschleder – dessen vorheriger Inhaber in den Wäldern des Lake Districts erlegt wurde – in kleinen Kreisbewegungen unerschütterlich abreibt, dann bleibt dir gar nichts anderes übrig, als sich von deinem Butler James (auch sie heissen immer so) ein paar kleine Häppchen servieren zu lassen. Und zwar keine trockenen Sandwiches mit bleichem Toastbrot und Mayonnaise mit Beilage, sondern vielmehr kleine kulinarische Träumereien, die in den weltbesten Restaurants als Amuse bouche serviert werden. Das bist du dir, deinem Rolls Royce und dem Schloss einfach schuldig.

So stehe ich also auf meinem Schlossplatz und schaue Arthur dabei zu, wie er gerade meinen Rolls Royce Phantom V gewissenhaft und beinahe zärtlich mit dem Hirschleder behandelt, während der Himmel über uns mit seinen Schäfchenwolken so aussieht, als hätte ihn René Magritte soeben für mich hingemalt. (Und glauben Sie nur nicht, dass das unmöglich wäre!) Und während ich Arthur mit einem Lächeln der Zuneigung beobachte, weil er diese zärtlichen Gefühle zu meinem Wagen mit mir zu teilen scheint, tritt James neben mich, macht eine kleine Verbeugung, die eher wie ein Zwicken in seinem Kreuz ausschaut, und hält mir eine ebenfalls auf Hochglanz polierte und aus reinstem Silber bestehende Platte hin, auf der meine Augen wunderbare Köstlichkeiten entdecken. Und wie ich sehe, hat Gaston, mein französischer Koch (gibt es überhaupt französische Köche, die einen anderen Namen tragen?), wieder einmal sein ganzes Repertoire ausgepackt und mir ein paar überaus nette Dinge kreiert.

Tja, Gaston weiss nur zu gut, dass meine tägliche Rolls Royce-Putzstunde heilig für mich ist, weshalb er alles dafür tut, damit diese Augenblicke für mich zu einem synästhetischen Genussmoment werden. Auch wenn er dafür schon morgens um 4 Uhr in der Küche stehen muss. Also hat er heute folgende kleine Leckereien zubereitet: Auf einem chinesischen Porzellanlöffel aus der Ming-Dynastie (ich lege nun einmal Wert auf die richtigen Details) sehe ich ein kleines Wachtel-Spiegelei mit ein paar Trüffelspänen. Daneben steht ein kleines Glas mit einem Kresse-Zitronengrass-Süppchen mit etwas Schnittlauch und einem Tropfen geschlagener Sahne. Dann ist da noch ein kleines Tellerchen mit einer frittierten Entenfleischkrokette, die auf einer Brunoise von Sellerie und Orange liegt. Dann wiederum ein Porzellanlöffel mit einem Carne crudo vom Kobe-Rind mit kaltgepresstem Olivenöl und Fleur de Sel. Und schliesslich noch ein kleines Silberkörbchen mit drei unterschiedlich gefüllten Brioches. Das erste Brioche ist mit einer Gänseleberpraline gefüllt. Das zweite Brioche ist mit einem Kräuterschaum mit Kerbel, Dill und wildem Thymian gefüllt. Und das dritte Brioche mit einem Tartar aus japanischem Gelbschwanz, das mit einer Wasabi-Limettenmarinade über Nacht mariniert wurde. Herrlich! Und wenn ich Ihnen sage, dass das alles auch so himmlisch geschmeckt hat, wie es mir präsentiert wurde, dann möchte ich Sie jetzt, lieber Leser, vor Neid erblassen sehen.

Aber wie gesagt, wenn man auf dem Vorplatz seines Schlosses steht und der Rolls Royce auf Hochglanz gebracht wird, dann muss man für seine Bemühungen auch richtig belohnt werden.
    

Donnerstag, 6. Februar 2014

Work-life-balance-midlife-crisis



„Ach wissen Sie, wenn ich in den Spiegel schau, dann sehe ich zwar keinen gelackten Beau mit gezupften Augenbrauen – ich schneide sie mit der kleinen Nagelschere –, aber dafür sehe ich einen zufriedenen übergewichtigen Mann im mittleren Alter. Und offen gestanden, benutze ich auch keine Hautcreme, es sei denn die Wintertage sind derart trocken, dass man meine Haut als Schleifpapier brauchen könnte. Ja, dann greifen meine Patschhändchen tatsächlich auch mal ins Töpfchen. Und was die Waage angeht, ach, was soll ich dazu schon sagen? Natürlich wären ein paar Kilos weniger – etliche, um ehrlich zu sein – meiner Gesundheit zuträglicher, und auch mein Arzt hätte wohl seine Freude an mir. Aber soll ich mich wirklich mein Leben lang mit Diäten quälen, die schon meine Mutter zur Verzweiflung gebracht und mit der Zeit zur unausstehlichen Person haben werden lassen? Und was heisst schon gesund?

Selbstverständlich bin ich Meister darin, mir gewisse Dinge schönzureden. Aber das scheint mir doch immer noch der bessere Weg zu sein, als Dinge zu verteufeln. Ich mag einfach nicht in diesen Mainstreamkram von wegen gesunder Lebensweise, ausgewogener Ernährung und Work-life-balance einstimmen. Erstens sind es Worthülsen, für die es ungelogen tausend verschiedene Rezepte gibt, die alle für sich die alleinseligmachende Richtigkeit beanspruchen. Zweitens dünkt mich lustvolles Geniessen irgendwie lebensbejahender und gesünder zu sein als miesepetriges Herunterwürgen von wertvollen Nährwerten. Und drittens habe ich auf meine Work-life-balance ja nur soviel Einfluss, wie es die äusseren Umstände – mein Job, meine Freunde, der Delikatessenladen auf dem Nachhauseweg – zulassen.

Aber wissen Sie, was wirklich der Punkt an der ganzen Geschichte ist? Ich esse gern. Ich geniesse all die herrlichen Dinge, die meine Sinne betören und die mich glücklich machen. Und Herrgott noch eins, ich bin ein Elefant. Warum soll ich also auf einmal zur Gazelle werden?“

Sonntag, 2. Februar 2014

Roberta kocht ihr Süppchen



Roberta war eine leidenschaftliche Frau. Und zwar in allem, was sie tat. Schon als kleines Mädchen hatte sie im Herbst jeweils zu Boden gefallene Laubblätter gesammelt und diese farblich abgestimmt vor sich hingelegt. Dass später einmal der englische Künstler Andy Goldworthy genau damit grosse poetische Kunst machen würde, welche die Vergänglichkeit für einen Moment zu einem unbeschreiblich anmutigen Bild werden liess, konnte Roberta damals noch nicht wissen.

Und die Tomaten wuchsen wie jedes Jahr im Garten vor ihrem Haus.

Als Roberta dann als junge Frau zu einem Schuhmacher ging und ihm ein paar bunte Zeichnungen hinhielt, weil sie dachte, es könnte ihn vielleicht weiter bringen, gab dieser ihr den Rat, gleich selbst einen Schuhladen zu eröffnen, da ihre Vorstellungen über sein Können hinausgehen würden. Sie befolgte den Rat und begann Schuhe zu machen, die bald nicht nur in Fiesole und Florenz zu kaufen waren, sondern den Erdball von Europa aus in grossen modischen Schritten eroberten.

Und die Tomaten wuchsen wie jedes Jahr im Garten vor ihrem Haus.

Mit 40 Jahren beschloss Roberta, dass sie den Menschen von nun an nicht mehr nur auf die Füsse, sondern auch auf die Finger schauen wollte. Darum hing sie das Geschäft mit den Schuhen an den Nagel, der selbstredend ein sehr, sehr, sehr, sehr goldener war, und engagierte sich politisch gegen die korrupten Machenschaften ihrer ehemaligen Kundschaft, die sich nicht nur selbstgefällig auf ihren atemberaubend hohen Highheels, sondern auch auf dem fiskalischen Glatteis bewegten.

Und die Tomaten wuchsen wie jedes Jahr im Garten vor ihrem Haus.

Als es Zeit wurde, dass Roberta ihr Leben in ruhigere Gewässer lenkte, beschloss sie, dass ihr immer noch stattliches Vermögen nicht nur ihr allein gehören sollte. Also beschloss sie, dieses Geld als Stiftung für einen Fernsehsender zu investieren, der nicht auf die Quoten schauen, keinen Gewinn machen und keine politische Absicht verfolgen musste. Die einzige Auflage war, dass er eine Gegenwelt zum Medienmonopol dieses schmierigen Milliardärs darstellen sollte und nur intelligente, wissenswerte und fundierte Inhalte vermitteln durfte.

Und die Tomaten wuchsen wie jedes Jahr im Garten vor ihrem Haus.

Als Roberta schon eine alte weise Dame war, wurde sie zur ‚Person of the Year’ des Time Magazine gewählt. In der Begründung war unter anderem zu lesen, dass sie Zeit ihres Lebens sich selbst treu geblieben wäre. Und auch wenn sie andere an ihrem Erfolg immer teilhaben liess, so habe sie doch stets mit grosser Kreativität und Leidenschaft ihr eigenes Süppchen gekocht.

Und die Tomaten wuchsen wie jedes Jahr im Garten vor ihrem Haus.