Mittwoch, 30. April 2014

Verbeugung vor einem Klassiker



Sie stand mit zu Boden gerichtetem Haupt auf der Bühne, blickte konzentriert auf ihre Schuhspitzen, die unter dem langen weissen Rüschenkleid hervorlugten, und badete im tosenden Applaus, der von allen Rängen wie eine atlantische Riesenwelle über sie hereinbrach. Sarah Bernhardt war gerade effektvoll und sehr dramatisch als Kameliendame an Schwindsucht gestorben und hatte wieder einmal ganz Paris gezeigt, was Schauspielkunst war. Wie Sprache, Geste, Mimik, Emotionen und perfektes Timing als darstellende Kunst zelebriert werden mussten. Und wie man eine Tragödie zu gestalten hatte, so dass den Zuschauern der Atem wie gefrorener Nebel in der Brust erstarrte.

Langsam hob sie ihren Kopf, genoss dabei jeden Zentimeter, jedes visuelle Fragment, das während der Bewegung in ihr Blickfeld geriet, und sah, dass die Menschen sie wieder einmal frenetisch feierten. Es war wie beim ersten Mal. Es war immer wie beim ersten Mal. Madame Bernhardt war die grösste Schauspielerin ihrer Zeit und jede Vorstellung glich einer Premiere, in der Theaterbesucher neues Land entdeckten und in neue Sphären stiegen. Diese Diva war wie ein Engel, der in die Höhe des künstlerischen Firmaments stieg, um dort mit ausgestrecktem Arm schon jetzt ins neue Jahrhundert zu zeigen, das in 3 Jahren beginnen sollte, und das für so viele Hoffnungen ein Versprechen verbarg. Zweifelsohne war die Bernhardt ein leuchtender Stern.

Und während all diese Lobeshymnen wie Zeitungsschlagzeilen vor ihrem inneren Auge auftauchten, die sie mit mehr als nur Genugtuung zur Kenntnis nahm, hörte sie plötzlich ein leises, und in diesem Lärm frenetischen Applauses kaum wahrnehmbares Grollen. Was konnte das sein? Ein herannahendes Gewitter? Eine Kutsche, deren Pferde durchgebrannt waren? Eine Kanonade?

Nein, es war nichts von all dem. Es war das Knurren ihres Magens, der sich nun entspannt hatte und sich bemerkbar machte. Es war ein lustvolles Hungergefühl, das der Konzentration und der Anspannung gewichen war. Es war die Lust, nach der Arbeit etwas zu sich zu nehmen, das auf seine Weise ihrer eigenen Kunst gerecht sein würde. Doch was konnte das sein? Gänseleber? Hummer? Austern? Champagner?

Oh nein, nichts dergleichen. Es war viel mehr eine kleine süsse Versuchung, die mit schlichter Souveränität einen grossen Auftritt bewältigen konnte. Es war ein Stück Millefeuille. Eine kleine Patisserie, die mit knusprigem Blätterteig, einer herrlich luftigen Vanillecrème und feinstem Zuckerguss alle Register zu ziehen vermochte, ohne dabei auf übertriebene Effekte zurückgreifen zu müssen. Es war schlichtes Können, das in sich stimmig war und dennoch begeisterte. Es war die Weglassung alles Unnötigen. Es war wie eine Zeile von Victor Hugo. Schlicht, klug, eindrucksvoll und einzigartig. Es war wie sie, die grosse Sarah Bernhardt. Ein Klassiker, den man immer wieder zu Gemüte führen wollte.

Montag, 28. April 2014

Der alte Fisch und das Meer



Herculano Pedro Javier da Silva war ein stolzer Schwertfisch, der schon lange in den Meeren lebte und in der Vergangenheit nur allzu oft mitansehen musste, wie seine Freunde und Familien Opfer menschlicher Gefrässigkeit geworden waren. Und auch wenn schon sein Vater, Eduardo Julio Alexandre da Silva, ihn bereits als jungen Fisch darüber aufklärte, dass sie einst ihr Leben einer höheren Sache opfern müssten, dünkte es ihn doch nicht recht, dass diese höhere Sache der nimmersatte Mensch sein würde. Da interessierte es ihn auch nicht, ob diese seine gefischten Freunde in feinstem Olivenöl angebraten oder am offenen Feuer grilliert hatten. Ob sie Aurelia, Cristiano oder Juanita danach von Hand oder auf edelstem Silber verspeist hatten. Oder ob man zu ihnen Kartoffeln oder Reis geboten hatte. Was für ihn zählte, war der Verlust, die Trauer und der Schmerz gewesen.

Da Herculano langsam selber lebenssatt geworden war und die Einsamkeit ihn schwermütig gemacht hatte, beschloss er eines Tages, nochmals all seine Kräfte zu sammeln und sich in selbstmörderischer Absicht wie ein Pfeil aus dem Wasser zu katapultieren, um einen Sportfischer, der gerade seinem blutrünstigen Hobby nachging, auf seiner Yacht zu durchbohren. Denn, wenn einem nichts mehr blieb, so war doch die Rache immer noch die beste aller schlechten Alternativen.

Donnerstag, 24. April 2014

Auf dem Sofa bei Oprah



Oprah Winfrey: „Ladies und Gentlemen, heute haben wir einen ganz besonderen Gast, den ich erst kürzlich in Zürich kennenlernen durfte. Er ist ein Feinschmecker, ein begnadeter Koch und ein Meister der Kurzgeschichte. Er hat schon mit fast allen gekrönten Häuptern der letzten 2000 Jahre zusammen gespeist, kennt Musiker, Filmstars und Literaten aus allen Epochen und hat auch so manchen stummen Fisch schon zum Sprechen gebracht. Er entlockt Pflaumenbäumen und Erdbeeren die innersten Geheimnisse, indem er für ein Interview auf deren Äste steigt oder sich in ihre Beete setzt. Und er macht keinen Hehl daraus, dass er zwar durchaus gesünder leben könnte, dies aber nur unter Beeinträchtigung seiner imposanten Persönlichkeit möglich wäre, weshalb gesünder leben für ihn keine wirkliche Option ist. Das nennt man mal eine Haltung. Begrüssen Sie mit mir den einzigartigsten und fantastischsten Dickhäuter unter der Sonne, begrüssen Sie Elefant à la crème.“

TOLLER APPLAUS. SEHR, SEHR TOLLER APPLAUS.

ELEFANT KÜSST OPRAH AUF BEIDE BÄCKCHEN UND NIMMT DANN AUF DEM SOFA PLATZ.

Oprah Winfrey: „Hallo Elefant, schön, dass du da bist.“

Elefant: „Danke Oprah, herzlichen Dank.“

Oprah Winfrey: „Wie ich sehe, bist du schon in den modischsten Frühlingsfarben gekleidet. Und ich muss sagen, diese Lila deines Polos finde ich einfach entzückend.“

Elefant: „Oh, vielen Dank. Das freut mich natürlich sehr.“

Oprah Winfrey: „Was mich aber erstaunt, ist, dass du anstelle eines kleinen grünen Krokodils einen kleinen grünen Elefanten aufgestickt hast.“

Elefant: „Ach das, ja, das hat mir René Lacoste im letzten Sommer in St. Tropez zum ersten Mal gezeigt. Ich habe ihn da im Jahr 1961 getroffen, um mit ihm bei einem wirklich wundervollen St. Pierre in Salzkruste ein kleines Interview zu machen. Und da hat René, der sich als regelmässiger Leser meines Blogs outete, mir diesen Vorschlag mit dem kleinen Elefanten auf dem Polohemd gemacht. Als Hommage an einen Genussmenschen, wie er es ausdrückte.“

OPRAH MACHT GANZ GROSSE AUGEN UND EINEN GANZ GROSSEN MUND UND SCHAUT ABWECHSLUNGSWEISE DEN ELEFANTEN UND DAS PUBLIKUM AN, UM ABSOLUTES ERSTAUNEN AUSZUDRÜCKEN.

Oprah Winfrey: „Haben wir das gerade richtig gehört? Du hast René Lacoste letzten Sommer im Jahr 1961 getroffen?“

Elefant: „Klar doch, wie du weisst, schreibe ich ja meine Geschichten alle selber und da ist alles möglich. Ich bin ein Zeitreisender und kann mir diese Freiheit nehmen.“

OPRAH JETZT ETWAS SÄUERLICH UND MELODRAMATISCH AUGENBRAUEN ZUSAMMENZIEHEND.

Oprah Winfrey: „Aber würde man das nicht eher als Hochstapelei oder Hirngespinste betiteln?“

Elefant: „Nicht unbedingt. Wie du ja selbst siehst, ist dieses Polo absolut echt. Und ich kann dir versichern, dass es keine billige Fälschung ist. Und übrigens, war nicht vor ein paar Jahren ein gewisser Herr Cruise hier zu Gast auf dem Sofa? Ich meine, dagegen fühlen sich doch meine fantastischen Geschichten ziemlich normal an, nicht wahr?“

OPRAH JETZT ETWAS VERDUTZT.

Oprah Winfrey: „Doch, ich muss zugeben, das hat was. Und schliesslich bist du ja auch hier eingeladen, weil du nachweislich so viele Freunde von mir kennst, die dich und deine Geschichten sehr bewundern.“

ELEFANT NICKT BESCHEIDEN. UND LÄCHELT IN SICH HINEIN.

Oprah Winfrey: „Errat uns doch zum Schluss noch bitte, was deine nächsten kulinarischen Begegnungen sein werden. Wie man ja weiss, steht bei dir jedes Ereignis unter einem besonderen Michelin-Stern.“

Elefant: „Nun, ich denke, ich werde mich in absehbarer Zeit mal bei einem Borschtsch mit Tolstoi treffen, um mit ihm über diesen unsäglichen Putin zu plaudern. Dann steht noch ein Treffen mit ein paar Morcheln im Walde und einer Prinzessin auf der Erbse an. Die wurde mir gerade vor 170 Jahren von den Gebrüdern Grimm vermittelt. Und was dann kommt, weiss eigentlich nur mein Elefantengedächtnis.“

Oprah Winfrey: „Ladies und Gentlemen, das war der unvergleichlich Elefant à la crème. Herzlichen Dank für deinen Besuch.“

TOLLER APPLAUS. SEHR, SEHR TOLLER APPLAUS.

Dienstag, 22. April 2014

Die Entdecker von Lissabon



Wir blicken hinaus, über die Stadt und den Rio Tejo, in den Westen, wo gerade die untergehende Sonne sich hinter den Wolken noch ein letztes Mal für heute hervor kämpft, um den weiten Himmel über dem zu erahnenden Atlantik in ein goldenes Licht zu tauchen.

Von hier aus hat Vasco da Gama sich aufgemacht, um die Meere und einen grossen Teil der Welt zu erobern. Von hier aus fliegt unsere Vorstellung zur nächsten grösseren Stadt jenseits des Meeres nach New York. Von hier aus hören wir den Fado, der in Wirklichkeit nicht nur von Frauen gesungen wird, welcher uns mit seiner Wehmut, seinem Schmerz und seiner Schönheit berührt, auch wenn wir kein Wort verstehen. Von hier aus blicken wir auf den kleinen runden Blechtisch vor uns, geniessen Sardinenmousse mit Weissbrot zu einem trockenen vinho branco, und wissen, dass wir soeben eine wirklich grosse Entdeckung gemacht haben.

Montag, 14. April 2014

Koriander zum Abschied



Ahmed rannte um sein Leben. Er wusste, dass er als Figur in einem Agententhriller von Eric Ambler keine grossen Chancen hatte, um zu überleben. Zumal er weder der Protagonist noch der Antagonist dieses Romans war, sondern einfach ein kleiner Gauner aus dem nahen Osten, der jetzt in Kapitel sieben um sein Leben laufen musste. Es war einfach nicht in Ordnung. Auch wenn er gerade eine Frau umgebracht hatte – mit einem Schuss exakt zwischen den Augen ‚PENG!’ –, so fand er jetzt diese an Sicherheit grenzende tödliche Verfolgung durch den Titelhelden wieder einmal so ein imperialistisches Gesellenstück, das sich nur einer ausdenken konnte, der die arabische Kultur nicht verstand. Sondern diese einfach als orientalische Kulisse benutzte, um der Welt zu zeigen, dass man hier im nahen Osten noch rückständig war. Aber was half es jetzt, sich darüber zu viele Gedanken zu machen. Die Szene war geschrieben. Und was er jetzt tun musste, war rennen, rennen, rennen.

Die Sonne brannte unbarmherzig auf Beirut. Der Leser sieht gerade einen gedungenen Mörder durch eine Strasse rennen. Auf seinen Fersen verfolgt ihn ein Geheimagent, der selbst noch beim grössten Spurt durch dieses Getümmel einen makellosen Eindruck in seinem teuren Anzug macht und nicht locker lässt. Und wie man lesen kann, kommt der Titelheld dem Flüchtling immer näher, bahnt sich wie eine Antilope den Weg durch die Menschenmenge, die gerade an Markständen steht, an Ecken miteinander plaudert oder an Tischen vor kleinen Lokalen etwas Mezze ist. Mit anderen Worten: all die Dinge, die dieses Szenario etwas mit Ambiente anreichern. Und es wird höchstens noch fünf Zeilen dauern, bis der Held den Flüchtigen zu fassen kriegt und diesen zur Rede stellt. Oder vielleicht nur noch drei Zeilen, bis es dem Verfolger zu viel wird und er den Araber in den Rücken schiesst. Doch schon jetzt sehen wir den Verfolgten inmitten eines Lokals stolpern – das ein paar Tische auf den Gehsteig gestellt hat, an denen gerade ein paar Touristen etwas essen – und mit dem Gesicht auf einer dieser Tische aufschlagen. Die zwei Frauen, die noch gerade friedlich dagesessen sind, schrecken zurück, halten melodramatisch beide Hände an die Wangen und beginnen entsetzt zu schreien.

Ahmed ist soeben getroffen worden. Der Schuss traf seinen Hinterkopf und katapultierte ihn auf einen kleinen runden Tisch vor sich, an dem gerade zwei Touristinnen ihr Mittagessen einnahmen. Das Gesicht schlägt unbarmherzig auf einem mit Hummus, Taboulé und Baba Ghanoush gefüllten Teller auf. Und das Letzte, was Ahmed in seinem Leben noch zu sehen bekommt, ist ein Büschel frischer Koriander in Grossformat, der als Dekoration auf dem Mezze-Teller liegt und sich in die weit aufgerissenen Augen geschoben hat, die nie mehr das Morgenlicht, die Abenddämmerung und den Sternenhimmel erblicken werden. Armer Ahmed, ausgerechnet Koriander.

Mittwoch, 9. April 2014

Zürich tanzt den Cancan



Die Kamera schwingt sich in die Höhe, steigt wie ein Heissluftballon in die Nacht und zeigt dann in einer Totalen aus der Vogelperspektive einen mit alten Platanen bepflanzten Platz. Vor verschiedenen im Parterre beleuchteten Restaurants sitzen Menschen an ihren Tischen, essen, trinken, parlieren und lachen, beleben den Ort mit Freude und verwandeln die Häuserfassaden zu theatralischen Kulissen. Ein Obsthändler hat malerisch seine Auslagen vor der Tür in die Höhe getürmt und eine alte Frau führt ihren kleinen Wau-wau Gassi. Man wähnt sich in Paris, hört im Geiste schon die kräftig brüchige Stimme Edith Piafs und kann es kaum erwarten, bis die Kamera endlich den Eiffelturm, das Sacre-Coeur oder die Kathedrale Notre-Dame vor die Linse schiebt. Alles ist so voll von Pariser Luft, dass es einem warm wird ums Herz.

Doch als die Kamera tatsächlich vom Platz über die Häuser in die Stadt hinaus schwenkt, sehen wir auf einmal den grossen St. Peter, das Fraumünster, die Frauenbadi, das Bauschänzli und schliesslich den Zürichsee. Hallo? Sind wir hier im falschen Film? Rieche ich nicht etwa im Wein geschmortes Lamm, Rosmarin, angebratener Knoblauch, Lavendel und Deux-Chevaux-Abgase? Sind das da unten keine eleganten Damen in grünen, gelben und rosafarbenen Kostümen von Chanel? Und diese farbigen Glühbirnen dort am Ufer? Leuchten die nicht von einem Hausboot auf der Seine? Hallo, Herr Regisseur, hören Sie mich? Da stimmt etwas nicht. Da wurden die Locations vertauscht. Das ist nicht Paris da unten, das ist Zürich. Hallo? Haaaaalllllooooooo!

Was ist hier passiert? Nun, es ist eigentlich ganz einfach. Die Zürcher sind auf die Haxen gekommen und haben den Charme rustikaler mediterraner Küche entdeckt. Lammhaxe geschmort, Schweinshaxe gegrillt und Ossobuco in hundert verschiedenen Variationen. Die Marktküche, wie wir sie aus der Rue de Seine in Paris, aus Aix-en-Provence oder aus Milano kennen, erobert die Schweizer Wirtschaftsmetropole und macht aus der geschniegelten Stadt mit ihren Anzügen und Hipsterklamotten eine leicht bekleidete Dulcinetta. Einen Ort, an dem uns die junge Sophia Loren, mit kaum mehr als einem Unterrock bekleidet, verführerisch entgegenlächelt und zuzwinkert. Eine junge Brigitte Bardot, die noch nicht zur fatalistischen Tierschützerin geworden ist, sondern uns mit einem lasziven Blick immer noch den Himmel in Blond auf Erden verspricht. Mein Gott, Zürich ist tatsächlich sexy geworden.

Und man kann diese Sexiness und dieses Gefühl von ‚Unschuld auf dem Lande’ auf den Tellern hiesiger Restaurants schmecken. Das stundenlang geschmorte Fleisch, das wie eine Verheissung vom Knochen fällt. Die würzige Schwarte, die uns knusprig ein offenes Feuer und Wacholder-Holz erahnen lässt. Oder die dunkle sämige Sauce, die uns, fast schon betrunken vom Wein, mit ihrer eleganten Rustikalität begeistert, weil sie die ganze Provence mit ihren Kräutern überflutet zu haben scheint. Ja, Zürich hat das Savoir-Vivre französischer Frivolität entdeckt und tanzt gerade mal den Cancan. Und wir? Wir applaudieren, weinen vor Glück und rufen: „Hoch die Haxen!“

Samstag, 5. April 2014

Das Brot des Poeten



Was essen eigentlich arme Poeten. Hartes Brot? Knäckebrot? Salat ohne Sauce? Oder gar McDonald’s? Leben sie nur von den geistreichen Gedanken und den geschliffenen Sätzen, die sie mit Bedacht auf ein Papier kritzeln? Schreibt man heute noch überhaupt auf Papier? Und was sind arme Poeten überhaupt? Sind das lebensunfähige Neurotiker, die ihr Leid einfach verbalisieren und es dennoch, so glücklos wie sie sind, für sich behalten müssen?

Ich bin überzeugt, Sie haben sich diese Fragen bestimmt auch schon einmal gestellt.

Gut, gibt es da Elefant à la crème, der sich als zeitkritischer und kulinarisch angefixter Schreiberling – der seine Brötchen mit Schreiben übrigens durchaus zu verdienen weiss und schon deshalb nicht zu den armen Poeten gezählt werden möchte – mit solch virulenten Fragen beschäftigt und diesem Phänomen auf die Spur geht. Und ich kann ihnen sagen, dass ich einen solchen armen Poeten gefunden habe und zufällig auch weiss, was seine Verpflegungsgewohnheiten sind.

Hans ist ein Mann in den Vierzigern. Er kleidet sich gerne wie das Klischee eines Architekten (schwarz, schwarz, schwarz und nochmals schwarz), trägt eine Hornbrille (schwarz), ist unrasiert und hat immer ein sehr komplexes Sternenbild von Schuppen auf den Schulterpolstern. Sein Kopf ist stets etwas rot und aufgedunsen (vom Alkohol), seine Sozialkompetenz (meine Gedanken gehören mir) inexistent und seine literarischen Leistungen (die Gesellschaft ist noch nicht bereit für meine Sprache) sind ein Mythos. Nichtsdestotrotz ist es mir gelungen, die Tiefen seiner Gedanken auf einem mit schnoddriger Schrift hingeschriebenen Blatt Papier ergründen zu können:

„Ich schreibe mit kurzen Bleistiften liederlicher als mit langen. Warum? Weil ich nicht anders kann. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn ich so schreiben könnte, wie mir die Hand gewachsen ist. Aber je kurzstiftiger ich schreibe, umso mehr verkrampfte ich mich. Und die Pharmaindustrie mit dem Kauf einer Gelenksalbe zu unterstützen, scheint mir nun doch des Guten zu viel. Also was tun? Weg mit dem kurzen Bleistift? Da nützt auch der Gummi am anderen Ende als stummelige Verlängerung rein gar nichts. Nein, es ist hoffnungslos. Das Schreiben darf nicht zur körperlichen Marter werden, wenn die Gedanken frei bleiben sollen. Weg mit den zu kurzen Bleistiften. Aber wohin? Nicht einmal mehr die Brockenstuben würden sie noch nehmen. Die nehmen ja noch nicht einmal mein altes Handy.“

Habe ich zu viel versprochen? Hans ist tatsächlich ein armer Poet. Literarisch auf jeden Fall. Doch statt ihn zu bemitleiden, habe ich mich natürlich ganz im Sinne meiner Aufgabe als Essensforscher dafür interessiert, was er so Tag für Tag isst.

„Heh, du Hans, was isst du denn so?“

„Was ich esse? Kommt ganz drauf an, was es in der Kantine gibt.“

„Kantine? Was für eine Kantine denn?“

„Die von unserem Geschäft.“

„Geschäft? Du arbeitest in einem Geschäft?“

„Ja, im Call-Center eines Telekommunikationsunternehmens.“

„Du bist also gar kein armer Poet?“

„Doch doch, schon. Einfach nicht Vollzeit.“

Mittwoch, 2. April 2014

Mike und ich, die Synchronfleischkäser



Es ist ein seltener Zufall, dass zwei so hochbegabte, humorvolle und lustorientierte Talente wie Mike und ich in derselben Überbauung wohnen. Und wenn wir uns auch nicht persönlich kennen, so sind wir doch Seelenverwandte. Denn während er eine erfolgreiche Karriere als Komödiant und Schauspieler im Fernsehen auf die Mattscheibe legt, geniesse ich, weit über die Grenzen des Kreis 5 hinaus, den guten Ruf eines unbestechlichen, differenzierten und selbstkritischen Elefanten, der sich selbst eben so lustig findet, wie das Fernsehpublikum den Müller. Realitätsverlust? Wunschdenken? Narzissmus? Mitnichten! Der Mike und ich sind einfach zwei super tolle Kerle, die sich immer wieder für ein Publikum neu erfinden und sich dann die Freiheit nehmen, über sich selbst und die anderen zu lachen. Und während er dafür einen Haufen Geld bekommt, klopfe ich mir selber auf die Schultern.

Aber sonst sind wir total gleich. Ja, schon fast seit der Geburt getrennt, könnte man denken, wenn man uns so sieht. Denn wir verfügen auch körperlich fast schon übers gleiche Format. Und wir tragen unsere Kilos beide mit der gegebenen Fassung, die Genussorientierung eben so mit sich bringt. Tja, das ist schon sehr bemerkenswert.

Wo bin ich stehen geblieben? Ach ja. Wie ich schon erwähnt habe, wohnen der Mike und ich in derselben Überbauung. Doch nicht nur das. Wir können uns gegenseitig praktisch in die gute Stube sehen. Und in die Küche. Und wenn ich über ein Teleskop verfügen würde, dann sähe ich wohl auch, ob das jetzt der scharfe Thomy-Senf im Türfach des geöffneten Kühlschrankes ist. Oder doch drei Tuben Mayonnaise? Aber schliesslich bin ich ja kein Stalker. Und ich bin weiss Gott froh darüber. Denn so kann ich mir die künstlerische Freiheit nehmen, mir vorzustellen, was der Burri, der Shiva, der Bestatter und der Muzzafer im Kühlschrank horten. Und da meine Passion für mich, als sich Zeugs ausdenkender Elefant, auch Verpflichtung bedeutet, gebietet mir meine künstlerische Freiheit, Euch, liebe Leser, an diesen Vorstellungen teilhaben zu lassen.

Ihr findet das jetzt etwas schräg? Macht nichts. Einfach einmal durchatmen und den Mut zum Fremdschämen haben.

Also, da ich mich ja so seelenverwandt mit Mike fühle, bin ich überzeugt, dass wir ein gemeinsames Hobby pflegen: Fleischkäsen. Richtig, das Fleischkäsen. Darunter versteht man in der Kulturgeschichte der barhändigen Nahrungsaufnahme das Essen von Fleischkäse-Rädli ohne Brot. Und das hat nicht nur seine ideellen Gründe, sondern rein praktische. Den wer gekonnt fleischkäst, der hält, auf dem Sofa sitzend, in der einen Hand den aufgeschnittenen Fleischkäse, dessen Verpackung man mit einer unglaublichen Reaktionszeit aufgerissen oder geöffnet hat, während man mit der anderen Hand – und geniesserisch filigranen Bewegungen – ein Rädli nach dem anderen von der Beige löst, um es in ordentlicher Geschwindigkeit, und der Absicht, ihm jetzt den Garaus zu machen, zum Mund zu führen. Wenn man dann so etwa 200g kalten Fleischkäse radibuz weggeputzt hat, sitzt man noch ein paar Augenblicke da, lässt den Abgang etwas nachklingen und wartet vielleicht noch auf ein Bäuerchen. Richtig, ein Görpsli. 

Denn Fleischkäsen macht man in der Regel alleine, weil man ja sonst den anderen Personen Rechenschaft darüber ablegen müsste, warum man kein Brot zum Fleischkäse isst. Und das zu erklären, braucht einfach unheimlich Geduld. Denn wenn jemand einem diese Frage stellt, dann weiss man, dass derjenige die wahre Qualität feinsten Fleischkäses noch nicht entdeckt haben kann. Und wenn dieser Jemand das Erwachsenenalter schon erreicht hat und immer noch solche Fragen stellt, dann kann man auch davon ausgehen, dass er diese Qualität nie entdecken wird. Denn so was hat man im Blut. Dafür hat man ein Talent. Und Mike und ich haben dieses Talent. Und darum bin ich überzeugt, dass wenn ich alleine auf dem Sofa gerade am fleischkäsen bin, der Mike zur gleichen Zeit dasselbe tut. Und das, meine lieben Leser, macht Mike und mich zu Synchronfleischkäsern.