Mittwoch, 30. April 2014

Verbeugung vor einem Klassiker



Sie stand mit zu Boden gerichtetem Haupt auf der Bühne, blickte konzentriert auf ihre Schuhspitzen, die unter dem langen weissen Rüschenkleid hervorlugten, und badete im tosenden Applaus, der von allen Rängen wie eine atlantische Riesenwelle über sie hereinbrach. Sarah Bernhardt war gerade effektvoll und sehr dramatisch als Kameliendame an Schwindsucht gestorben und hatte wieder einmal ganz Paris gezeigt, was Schauspielkunst war. Wie Sprache, Geste, Mimik, Emotionen und perfektes Timing als darstellende Kunst zelebriert werden mussten. Und wie man eine Tragödie zu gestalten hatte, so dass den Zuschauern der Atem wie gefrorener Nebel in der Brust erstarrte.

Langsam hob sie ihren Kopf, genoss dabei jeden Zentimeter, jedes visuelle Fragment, das während der Bewegung in ihr Blickfeld geriet, und sah, dass die Menschen sie wieder einmal frenetisch feierten. Es war wie beim ersten Mal. Es war immer wie beim ersten Mal. Madame Bernhardt war die grösste Schauspielerin ihrer Zeit und jede Vorstellung glich einer Premiere, in der Theaterbesucher neues Land entdeckten und in neue Sphären stiegen. Diese Diva war wie ein Engel, der in die Höhe des künstlerischen Firmaments stieg, um dort mit ausgestrecktem Arm schon jetzt ins neue Jahrhundert zu zeigen, das in 3 Jahren beginnen sollte, und das für so viele Hoffnungen ein Versprechen verbarg. Zweifelsohne war die Bernhardt ein leuchtender Stern.

Und während all diese Lobeshymnen wie Zeitungsschlagzeilen vor ihrem inneren Auge auftauchten, die sie mit mehr als nur Genugtuung zur Kenntnis nahm, hörte sie plötzlich ein leises, und in diesem Lärm frenetischen Applauses kaum wahrnehmbares Grollen. Was konnte das sein? Ein herannahendes Gewitter? Eine Kutsche, deren Pferde durchgebrannt waren? Eine Kanonade?

Nein, es war nichts von all dem. Es war das Knurren ihres Magens, der sich nun entspannt hatte und sich bemerkbar machte. Es war ein lustvolles Hungergefühl, das der Konzentration und der Anspannung gewichen war. Es war die Lust, nach der Arbeit etwas zu sich zu nehmen, das auf seine Weise ihrer eigenen Kunst gerecht sein würde. Doch was konnte das sein? Gänseleber? Hummer? Austern? Champagner?

Oh nein, nichts dergleichen. Es war viel mehr eine kleine süsse Versuchung, die mit schlichter Souveränität einen grossen Auftritt bewältigen konnte. Es war ein Stück Millefeuille. Eine kleine Patisserie, die mit knusprigem Blätterteig, einer herrlich luftigen Vanillecrème und feinstem Zuckerguss alle Register zu ziehen vermochte, ohne dabei auf übertriebene Effekte zurückgreifen zu müssen. Es war schlichtes Können, das in sich stimmig war und dennoch begeisterte. Es war die Weglassung alles Unnötigen. Es war wie eine Zeile von Victor Hugo. Schlicht, klug, eindrucksvoll und einzigartig. Es war wie sie, die grosse Sarah Bernhardt. Ein Klassiker, den man immer wieder zu Gemüte führen wollte.

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