Sonntag, 17. August 2014

Signora Lucelli



Hoch über uns spannte sich ein weiter stahlgrauer Himmel, während die morgendliche Luft, noch kühl von der Nacht, Signoras Lucellis und meine Augen wie Taunebel befeuchteten und unseren Blick klar werden liessen. Es war noch nicht 6 Uhr und die Vögel sowie die Grillen waren weit und breit das Einzige, was wir zu hören bekamen.

Wir befanden uns in der Umgebung von Tavernelle, einem kleinen Ort zwischen Florenz und Siena, wo die Wälder zum Pilzsammeln einladen. Und weil ich gerade für die New York Times einen Artikel über Pilzgerichte schrieb, schien es mir opportun, mich in ein Flugzeug zu setzen, um über Zürich nach Florenz zu fliegen und mich an Signora Lucelli zu wenden, welche selbst eine kleine Osteria betreibt und als eine grossartige Köchin gilt, die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihre umwerfenden Pilzgerichte bekannt ist, mit der Bitte, mir ein paar Geheimnisse zu verraten. Etwas darüber erstaunt, dass ich dafür extra aus den Staaten herangereist war, hatte sie nichts dagegen einzuwenden, sondern fühlte sich wohl sogar etwas geschmeichelt, soweit ich das an ihrem sehr zurückhaltenden Lächeln, das zu interpretieren schon eine Kunst für sich war, erkennen konnte, und hiess mich heute Morgen um 5 Uhr in der Früh bei ihr vor der Haustüre stehen.

„Sie werden von mir keine Rezepte erhalten, mein Lieber,“ sagte Signora Lucelli gleich als Erstes zu mir, „aber Sie werden mich in den nächsten vier Tagen begleiten können und dann sehen, was hinter meiner Art zu kochen tatsächlich steckt. Und ich kann Ihnen sagen“ und dabei sah sie mich mit einem süffisanten Lächeln, das jetzt tatsächlich auch als eines auszumachen war, von oben bis unten an und schloss mit den Worten, „mit Ihren Halbschuhen werden Sie dabei nicht weit kommen. Also, bis morgen mein Lieber.“

Nachdem ich also gestern noch hastig in einem Sportgeschäft in Colle di Val d’Elsa ein Paar Wanderschuhe gekauft hatte, stand ich jetzt mit Signora Lucelli am Waldrand und blickte in die grüne Dichte eines wilden Mischwaldes, dessen Unterholz von unzähligen Stauden, Sträuchern, Farnen und Gräsern überwachsen war. Und wie in einem Roman von Joseph Conrad schritten wir mit beherzten Schritten in diese Finsternis, die sich nach einer Weile in eine ruhige und von Insekten, Schmetterlingen und Vögeln beseelte Oase verwandelte und fanden innert zweier Stunden wunderbare Pfifferlinge, Steinpilze, Kräuterseitlinge, Waldchampignons und Totentrompeten. Mit anderen Worten die ganze Breite an Pilzen, wie man sie sonst nur auf guten Märkten bekommt.

Als wir dann zwei Stunden später in ihrer Küche standen und ich dabei zusah, wie sie die Pilze mit einem kleinen Küchenmesser und einer kleinen Pilzbürste reinigte, erzählte sie mir, was ihr Geheimnis war. Und wie so oft bei grossen Köchen, war das Geheimnis auch bei ihr nicht wirklich eines. Denn auf alles, wonach es Signora Lucelli beim Kochen mit Pilzen ankam, war die richtige Partnerwahl.

„Es ist wie bei uns Menschen, es sollte passen, aber dabei nicht zu harmonisch sein. Beide Partner sollten ein Eigenleben und ihre Freiheiten haben. Wenn ein Pilz einen starken Charakter hat, dann sollte man ihm auch mit Stärke begegnen, ohne ihn einzuengen. Zum Beispiel mit Liebstöckl, Dill, Schnittlauch, Beifuss oder im Frühjahr auch mit Brennesseln. Wenn ein Pilz zur Harmonie neigt, verhelfen Sie ihm zu mehr Persönlichkeit mit Petersilie, Kerbel oder Thymian. Und damit sich beide Charakter mit einander anfreunden können, nehmen Sie Zwiebeln, Mangoldblätter oder Spinat. Sie verstehen, was ich meine?“

Zwiebeln, Mangoldblätter oder Spinat als Paartherapeut? Nun gut, irgendwie war das zu verstehen.

Diese Frau hatte sich für das, was sie tat, eine eigene Weltanschauung geschaffen, die immer den Menschen in den Mittelpunkt stellte. Sie betrachtete das Kochen als eine Art Lebensphilosophie. Eat Pray Love auf Italienisch, nur auf Italienisch. Aber ihre Philosophie war so berückend einfach und einleuchtend, dass ich darüber erschrak. Nicht weil ich es nicht faszinierend fand, sondern weil ich daran zweifelte, ob ich diese Einfachheit den Lesern der New York Times auch schmackhaft und erklärbar machen konnte. Und als ob Signora Lucelli meine Gedanken gelesen hätte, fügte sie noch hinzu: „Glauben Sie mir, wenn man etwas begreifen möchte, dann ist es das Einfachste. Denn nichts scheint komplizierter zu sein. Dabei ist nicht das Einfache kompliziert, sondern die Eitelkeit, diese Einfachheit nicht zuzulassen.“

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