Mittwoch, 29. Januar 2014

Strange fruits und Schweinsrippchen



Gestern noch stand Lady Day in der ausverkauften Carnegie Hall und hatte wohl einer ihrer grössten Erfolge erlebt. Ihre durch Schmerz und Heiserkeit mäandernde Stimme hatte das Publikum von den Sitzen gerissen und den Songtexten diese laszive und brüchige Tiefe gegeben, die wie ein verletzter Tiger mit seinen Krallen in der Magengrube eines jeden kratzte, so dass die Worte nun erst ihre wahre Bedeutung bekamen und so jeden Zuhörer zu bewegen vermochten.

Billie Holiday sang wie immer über ihr Leiden, ihr Erleben, ihre Ängste und ihre Diskriminierung, die sie auch heute noch als Star täglich zu spüren bekam. Gewiss, dass sie wegen Prostitution und Drogenmissbrauch schon im Gefängnis sass, war dabei keine Hilfe gewesen. Doch auch wenn sie immer ein tadelloses Leben geführt hätte, würde sie als Schwarze heute nicht besser dastehen. Daran waren nicht nur die Rassendiskriminierungen der Weissen schuld gewesen, sondern oft auch die schwarzen Brüder und Schwestern, die es auf irgendeine Weise im Musikgeschäft zu etwas gebracht hatten und die ihr Revier, was zumindest das Finanzielle anging, zu verteidigen wussten. Und auch wenn Billie dennoch viele Freunde besass, die sie für ihre Kunst bewunderten und zu ihr standen, spielte ihr Selbstvertrauen ihr selbst immer wieder einen Streich und trieb sie zum Glas oder zur Spritze.

Doch heute, an diesem Frühlingstag in New York des Jahres 1948, sassen Billie, John, Carl, Serena, Joshua und ich an einem grossen Tisch in Joe’s ‚All you can pig’, in dem Schweinsrippchen vom Grill zu dem absolut Besten gehören, was Manhatten in Sachen Fleisch zu bieten hat. Dafür sorgt Joe gleich selber, weil seine Barbecuesauce weit über die Bronx hinaus bekannt ist. Und sie ist natürlich ein absolutes Geheimrezept. Mit Sicherheit gehören Tomatensauce, Honig, Essig, Zwiebeln und Knoblauch zu den Hauptzutaten. Auch Cayennepfeffer und Paprika sind zu schmecken. Aber was der Sauce den wirklich einzigartigen Geschmack verleiht, darum streiten sich sogar jene Geister, die sich hauptberuflich mit Kochen und Essen beschäftigen und ihre Entdeckungen in verschiedenen Lokalblättern sowie auch in der New York Times publizieren. 

Aber was spielte das jetzt für eine Rolle. Sogar Billie sass in aufgeräumter Stimmung da und ass ein paar Happen, wobei sie ein kleines Glücksgefühl zu empfinden schien. Heute war der Tag, an dem Billie gefeiert wurde. Heute war der Tag, an dem die Zukunft warten konnte. Und alles, was uns sonst als Schwarze auf den Schultern lastete, war verflogen. Weit, weit weg. Wenn auch nicht für immer, so doch für heute. Denn dieses Festessen konnte uns für einmal nicht genommen werden.

Sonntag, 26. Januar 2014

Ein Engel schwebt über Singapur



Wir sassen auf einer Veranda und blickten in die dämmernde Nacht über die Wolkenkratzer hinaus auf das ruhige Meer. Die Lichter der Stadt glühten wie Millionen Augen und spiegelten sich im Wasser. Der vor uns liegende tropische Garten war erfüllt von Vogelstimmen und einer Ruhe, als hätte man bei einem Film den Ton leiser gestellt. Es war ein Mix aus Geräuschen und Stille; ein Weben, ein Rauschen, ein Klang, ein Nichts und ein Alles.

Als Karan, ein indischer Freund und Spitzenkoch, uns einen Teller mit einem kleinen salzigen Strudel hinstellte, wussten wir noch nicht, dass wir gleich einen Engel sehen würden. Doch als wir den ersten Bissen nahmen und der Geschmack von gebratenem und raffiniert gewürztem Lammfleisch sich unserer Zunge bemächtigte, erwachte in uns eine Welt, die fantastische Bilder als Projektionen in den Nachthimmel warf. Und als wir dann noch die dazu gereichten Schälchen mit unterschiedlich aromatisiertem Joghurt (Aloe vera, Zitronengrass, Pfefferminze und Olivenöl) probierten, wirkte die Verbindung mit dem Lammfleischstrudel wie ein Opiat. Und da sahen wir ihn: den Engel.

Es war ein glänzender Himmelsbote, der mich mit seinen Blautönen an Delfter Porzellan erinnerte. Ein lachendes Kind mit Flügeln, der schwebend über unseren Köpfen kleine Kapriolen vollführte und dabei mit einer hohen Mädchenstimme geheimnisvolle Lieder sang, die sich wie die Hits von CocoRosie anhörten. Es war ein synästhetisches Erlebnis, das mich und meine Frau mit weit aufgerissenen Augen einfach staunen liess. Wieder hatten wir die Kochkunst von Karan neu entdeckt. Wieder hatte er uns verzaubert. Wieder hatte er uns seine Freundschaft auf eine unvergessliche Art angeboten. Und wieder sassen wir wie kleine Elefantenkälber in unseren Sesseln und staunten, als würden wir zum ersten Mal in unserem Leben die Sterne sehen.

Mittwoch, 22. Januar 2014

Matjes ahoi



Die Wellen schlugen wie wild gewordene Wassernixen gegen die Schiffswände, während die Wolken tief und stählern den Wintertag auf dem Meer verdüsterten, so dass man glaubte, alle nordischen Götter hätten sich gegen die Fischkutter verbündet und deren Untergang schon besiegelt. Kapitän Strowel aber, ein alter lustiger Seebär mit ausgesprochen vielen Lachfalten um die Augen und einem vollen schneeweissen Bart, tat, was er in solchen Momenten immer zu tun pflegte: er stopfte sich die Pfeife, lachte vor sich hin und vergnügte sich überaus köstlich über die erschrockenen Gesichter seiner Mannschaft, welche alle das Ende ihrer Existenz in meterhohen Wellen auf sich zukommen sahen.


Doch Strowel war mit der See verbündet, kannte die Stürme und Launen des Nordens und liess sich nicht aus der Ruhe bringen. Denn, und das war für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche, der olle Meister im Himmel würde ihn nicht zu sich holen, bevor er nicht noch einmal von dem wunderbaren Matjessalat seiner liebsten Adele gegessen haben würde. Dieses herrlichste aller Gerichte – das mit eingelegtem Hering, Äpfeln, Zwiebeln, saure Sahne, Essiggurken und selbst gemachter Mayonnaise all das verband, was die Seele eines Seemannes ehren konnte – würde mit Sicherheit das Letzte sein, was er auf Gottes Erde sehen würde. Also war gar nicht daran zu denken, dass seine ‚Lorelei’ heute nicht auch in den Hafen von Wustrow einlaufen würde. Und siehe da, da war auch schon das Leuchtfeuer zu sehen. Und wenn man die Nase in den Wind hielt, ja dann, dann konnte man sogar schon den Matjes riechen. Nein, heute war kein Tag zum Sterben, heute wurde noch einmal das Leben gefeiert.

Sonntag, 19. Januar 2014

Der schönste Tag in meinem Leben



Ich war ein kleiner Bube von fünf Jahren, als ich 1907 das erste Mal bei Herrn Feigenschnabel im Kolonialwarenladen stand. Meine Mutter war als junge Witwe eben erst vom Land in die Stadt gezogen und verdiente ihr Geld seit kurzem als Klavierlehrerin und Korrepetitorin am hiesigen Opernhaus. Als Frau mit Kind und ohne Mann (alleinerziehend war damals noch kein Begriff) war sie zudem sehr darum besorgt, dass ich mein neues Umfeld schnell kennenlernen würde, damit sie mich auch einmal selbständig auf einen Botengang oder einkaufen schicken konnte. Also war es sehr naheliegend, dass sie mich in die wundersame Welt des Viktor Feigenschnabel führte, dessen Geschäft wirklich gleich um die Ecke war, und mir dabei zu verstehen gab, dass ich hier nun in Zukunft alleine hinzugehen hätte, um dies und jenes einzukaufen. Ich glaube, das war der schönste Tag in meinem Leben.

Herr Feigenschnabel und seine Frau waren ein kinderloses Paar gewesen, die hier inmitten von wohlriechenden Köstlichkeiten standen, dabei immer ein Lächeln auf dem Gesicht hatten und uns Kindern stets eine kleine Leckerei mit auf den Weg gaben. Mal war es eine getrocknete Aprikose, mal ein paar Mandeln oder Erdnüsse. Und wenn Weihnachten vor der Türe stand, konnte es sogar passieren, dass man ein ganzes Reiheli Schokolade bekam. Bei Feigenschnabels gab es einfach immer etwas. Das was dann der schönste Tag in meinem Leben.

Da meine Mutter als berufstätige Frau, die zwar einen Teil ihres Einkommens am Klavier in unserem Wohnzimmer verdiente, oft keine Zeit für mich erübrigen konnte, machte ich es mir zur Gewohnheit, zu Feigenschnabels Kolonialwarenladen zu gehen und dort meine Zeit vor dem grossen Fenster mit den Auslagen zu verbringen. Denn für mich war das wie ein grosses überdimensionales Puppenhaus. Als Herr Feigenschnabel mein oftmaliges Erscheinen auffiel, bat er mich herein und fragte, ob ich etwas Bestimmtes suche? Als ich das verneinte und erwiderte, mir würde einfach das Ladenlokal so gut gefallen und ich könnte mich stundenlang kaum daran satt sehen, machte er mich sofort zum Ladengehilfen, mit dem Hinweis, dass er das mit meiner Mutter zwar noch klären müsste, aber sie wohl nichts dagegen einzuwenden hätte. Ich glaube, das war der schönste Tag in meinem Leben.

Von nun an war eine meiner Aufgaben, auf einem hölzernen Schemel zu stehen und mit einer Dosierschaufel Kaffeebohnen, Nüsse, Getreide, Mehl, Zucker, Salz, Trockenbeeren und vieles mehr in Papiersäckchen verschiedener Grössen zu füllen. Dabei lernte ich nicht nur das konzentrierte und genaue Arbeiten, sondern wurde auch in die Mengenlehre eingeführt, bevor ich auch nur wusste, dass es Worte wie Mathematik und Algebra gab. Das heisst, ich lernte anhand der verschiedenen Gewichtsteine die Gewichtsmasse so wie deren Addition. Und als ich begriff, dass ich das begriffen hatte, war ich überzeugt, dass das der schönste Tag in meinem Leben war.

Eine weitere Aufgabe bei meiner Arbeit als Ladengehilfe bestand darin, den Geschichten von Herrn Feigenschnabel zuzuhören. Denn er verstand sogleich, dass mich nicht nur die Köstlichkeiten in den Schubladen, Gläsern und Holzgestellen interessierten, sondern auch deren Herkunft. Also entführte er mich täglich in alle Ecken der Welt und erzählte mir, was es mit Kolonialwaren auf sich hatte. So wurden die Kaffeebohnen zur südamerikanischen und afrikanischen Dschungelgeschichte. Die Dörräpfel und –birnen zum Loblied auf das hiesige Tafelobst. Die Mandeln zur romantisch blühenden Landschaft in einem Land, wo man mit Stieren in der Arena kämpfte. Und der Reis zu einer abenteuerlichen Reise nach China. Und jede Geschichte machte den jeweiligen Tag zum schönsten Tag in meinem Leben.

Als ich ein kleiner Junge war, da reiste ich im Kolonialwarenladen von Herrn und Frau Feigenschnabel um die ganze Welt. Es war eine Zeit, die nur aus schönsten Tagen bestand. Und es war eine Welt, die das grösste Geschenk für ein Kind war, dessen Neugier sich nie stillen liess. Ich glaube, das war das schönste Kindsein, das man sich überhaupt vorstellen konnte.

Mittwoch, 15. Januar 2014

Fisch- statt Computermenü



Königin Christina von Schweden und ich kamen gerade aus einer Vorstellung des Covent Garden, in dem unter der Leitung von John Eliot Gardiner ‚Le nozze di Figaro’ gegeben wurde. Von der Anmut der Musik und dem Wohlklang der Stimmen noch tief berührt, wandelte die Frau mit der langen krummen Nase und ihrem dunkel gewellten Haar, das mit einem einfallslosen Mittelscheitel mehr schlecht als recht in Form gebracht wurde, lächelnd neben mir her. Und obwohl ich sie gebeten hatte, doch etwas Modernes anzuziehen, bestand sie darauf, in einem dunklen barocken Kleid zu erscheinen, das sie schon vor 350 Jahren getragen hatte. Sie war schliesslich einmal Königin gewesen. Und Konvertitin. Und unverheiratet – bis zu ihrem Tod. Und man dürfe diese Geschichte, ihre Geschichte, ruhig an der Art der Kleidung erkennen. Nun, als einfacher Bürger im 21. Jahrhundert und ohne adligen Hintergrund hatte ich da natürlich nicht viel entgegenzuhalten vermocht und sah ihr deshalb diesen etwas eigenartigen Aufzug nach.

„Wollen wir ein Taxi nehmen?“, fragte ich Christina. „Das Restaurant liegt nicht gerade in der Nähe und ich möchte nicht, dass du dir die Kleider schmutzig machst.“

Christina sah mich mit grossen Augen an und fragte mich: „Was ist ein Taxi?“

„Aber Christina, habe ich dir nicht gesagt, du solltest dich etwas schlau machen über unsere Zeit? Es ist nicht ungefährlich, wenn du dich in einer fremden Welt bewegst und nichts über sie weisst. Du bist ja immerhin schon über 300 Jahre tot. Ein Taxi ist so ein Gefährt mit einem Licht auf dem Dach, das dich gegen Bezahlung überall hinbringt.“

„Ich bezahle doch nichts dafür, dass mich einer irgendwo hinbringt“, empörte sich die ehemalige Königin von Schweden und fuhr fort, „und ich wollte mich ja schlau machen, wie du das nennst, aber dieses Ding, das Internetz, hat mir nicht geantwortet, als ich ihm Fragen gestellt habe. Da habe ich es verbannt.“

Ich begriff, dass ich sie mit der modernen Technik völlig überfordert hatte, als ich sie vor drei Tagen vor einen Computer setzte und ihr erklärte, dass sie mit der Tastatur Worte eingeben und so Antworten erhalten konnte. Was war ich doch selber für ein Naivling gewesen.

Aber was musste gerade auch mir diese Frau über den Weg laufen, als ich vor vier Tagen im Harrods vor der Fischauslage nach einer Dorade Ausschau hielt. Sie war an mich herangetreten und hatte mir mit klaren Worten zu verstehen gegeben, was Sache ist: „Ich bin Christina von Schweden, ich war Königin, bin seit 324 Jahren tot und ich habe weiss Gott genug Geld, um hier diesen ganzen Laden zu kaufen. Aber ich weiss nicht, wie man das macht. Ihr müsst mir helfen.“

Da ich mich letztes Jahr in Paris schon mal mit dem Sonnenkönig, Louis XIV. zu einem Mittagessen verabredet hatte, war ich erstaunlich unerstaunt über diese Erscheinung, lächelte diese barocke Erscheinung an und anerbot mich, ihr tatsächlich behilflich zu sein, ganz so, als hätte ich ihren auffordernden Ton gar nicht erst gehört.

So kam es, dass ich Christina ein umfangreiches Update über die letzten 324 Jahre gab, ihr erzählte, wer gerade in Schweden auf dem Thron sass (Und diese Silvia ist tatsächlich eine Bürgerliche?) und welche Regeln heutzutage eine moderne Gesellschaft ausmachten. Und da sie nebst ein paar wenigen Fragen zu all diesen Neuigkeiten nur kühl die Schultern zuckte, beschloss ich, dass ich es – nach einem kleinen Briefing – wagen konnte, mit ihr die Oper am Covent Garden und anschliessend ein feines Fischrestaurant zu besuchen.

Als wir 20 Minuten später im Restaurant vor der Speisekarte sassen, war Christina wieder ganz die alte Königin und meinte, dass es sehr originell vom Koch sei, alles, was ihr gleich serviert werden würde, auch aufzuschreiben. Als ich ihr dann aber sagte, dass es nicht die Reihenfolge, sondern nur eine Auswahl dessen war, was wir essen würden, hob sie etwas enttäuscht die Augenbrauen und quittierte dies mit einem langgezogenen und durchaus Unverständnis vermittelnden „Okay.“ Dann seufzte sie und sagte: „Dann lass mich wenigstens die Wahl treffen.“

Was isst eigentlich so eine Königin? Wollen Sie es wirklich wissen? Nun gut, Sie haben es so gewollt.

Zuerst servierte man uns eine mit Sauce Bernaise-Schaum überbackene Auster mit einer kleinen Kaviarkrokette. Dann folgte ein Tartar von Thuna auf durch Wasabimilch gezogene Buchweizennudeln. Ein pochiertes Ei in einem Zitronenjoghurt mit Lachsrogen. Und geräuchter Aal auf Rote Beete Chips mit dem entsprechenden Salat (eine hauchdünne Scheibe mit einem Tropfen Aceto Balsamico). Zur Hauptspeise gab es eine einfach gebratene ganze Seezunge mit Kartoffelperlen auf Petersilienschaum und Limoneneis im Glas.

Als Christina dann auch noch eine Auswahl an Desserts bestellen wollte, musste ich insistieren und ihr auf diplomatische Art klar machen, dass ich mich leider nicht mehr imstande sah, auch nur schon eine leere Gabel in meinen Mund zu stecken. Woraufhin sie mir die Kapitulation zugestand und nur noch für sich einen Panna cotta auf einem Waldbeerenspiegel (Coulis) bestellte.

Ja, man konnte tatsächlich sagen, dass Christina, Königin von Schweden, Konvertitin, Eroberin, Mäzenin und Katholikin, auch eine grosse Feinschmeckerin war, die sich von der modernen Gesellschaft nicht lumpen liess.

Samstag, 11. Januar 2014

Gute Nacht John-Boy



Wummmmmmssss! Die schwere Haustür schlug zu, als wäre es für immer. Die noch eben bestrittene Schneeballschlacht, das kurze Wettrennen nach Hause und die vor der Tür nachlässig liegen gelassenen Schlitten waren schon Vergangenheit und in weite Ferne gerückt.

Der Sonntag hatte für uns Kinder abends eine eigene Magie. Nicht, weil wir uns auf die kommende Schulwoche freuten (solche Streber waren wir nicht). Auch nicht, weil uns ein warmes Schaumbad erwartete, bei dem wir das ganze Badezimmer zu einem einzigen Ozean werden liessen. Und auch nicht, weil Vater uns sonntags aus einem Buch Geschichten vorlas, die ihm in seiner Jugend (das musste bestimmt schon Zweihundert Jahre her sein) schon unser Grossvater vorgelesen hatte.

Der Grund, warum wir den Sonntagabend liebten, waren die Waltons. Und die heissen Wienerli, die wir dazu ausnahmsweise auf dem Sofa essen durften, damit Mutter mit ihrem Zeitmanagement nicht in Verzug geriet (Wehe, ihr verdreckt den Stoff mit Senf!). Wienerli waren somit zum ersten Fastfood in unserem Leben geworden. Und dafür liebten wir sie. Denn fernsehen und gleichzeitig essen war ein Ding, das bei uns eigentlich undenkbar war. Aber da Mutter eine Schwäche für John Boy hatte und Vater den Krämer Ike Godsey einfach köstlich fand (Mein Gott Vater, was benutzt du denn für Adjektive?), gehörte das Wienerli-Essen am Sonntagabend einfach zu unseren wöchentlichen Ritualen.

Diese Geschichten zur Zeit der amerikanischen Depression (Mami, warum gab es eigentlich eine Zeit, die nach Onkel Theos Krankheit benannt wurde?) waren für uns etwas Eigenartiges und Fremdes, das uns aber auf seltsame Weise zu berühren schien. Es war eine heile Welt zu einer unheilvollen Zeit. Es waren rechtschaffene, biedere und zuweilen moralisierende Alltagsgeschichten, die uns wie bei einem Märchen Botschaften zu vermitteln versuchten, aus denen jeder zu seiner eigenen Erkenntnis gelangen konnte.

Für meine ältere Schwester war es die Erkenntnis, unserer Mutter dafür dankbar zu sein , dass sie nach meiner Geburt mit dem Kinder gebären aufgehört hatte. Für meinen älteren Bruder war es die Erkenntnis, dass so ein rothaariges Mädchen doch auch noch herzig sein konnte. Und für mich war es die Erkenntnis, dass Wienerli mit Mayonnaise einfach besser schmeckten.

Und was meinst du John-Boy? Nichts? Ok. Gute Nacht John-Boy.

Mittwoch, 8. Januar 2014

Der Appetit der Unschuld



Soeben aus Amsterdam und Berlin zurückgekehrt, schlenderte ich an einem kalten Januartag durch die tief verschneite Madison Avenue und bereitete mich auf das bevorstehende Mittagessen mit Martin Scorsese vor. Wir hatten uns im San Domenico verabredet und wollten uns über sein neustes Filmprojekt austauschen, für dessen Ausstattung ich als Production Designer verantwortlich zeichnen würde. Bei der Geschichte handelte es sich um eine Novelle von Edith Wharton, deren Handlung sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der New Yorker High Society abspielte und für dessen Verfilmung sich Scorsese ein opulentes visuelles Tableau wünschte.

Schon vor Weihnachten hatte ich mich zu diesem Zweck mit Michael Ballhaus, dem Kameramann von Martin Scorsese, in Los Angelos getroffen, und wir waren beide überein gekommen, dass wir uns für die Bildsprache bei den niederländischen Malern des 17. Jahrhunderts bedienen wollten. Insbesondere die Stilleben mit Blumen und Esswaren schienen für uns die ideale Bildwelt dafür zu sein. Also machte ich mich nach den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1991 auf den Weg nach Europa, um dort die Bilder von Jan Davidsz de Heem persönlich und unmittelbar unter die Lupe zu nehmen. Natürlich hätte ich mir auch mit der Ansicht von edlen Bildbänden ein Bild machen können (Internet war damals noch ein Fremdwort), aber die direkte Gegenüberstellung mit Gemälden ist einfach eine ganz andere Art der Inspiration. Das Leuchten der Farben, die Struktur der Pinselstriche, die Dimensionen der Gemälde an sich sowie auch die Präsentation in einem Ausstellungsraum vermitteln ganz andere visuelle Informationen als ein noch so gut gedrucktes Bild in einem Buch. Kommt hinzu, dass die räumliche Wahrnehmung eines Bildes auch die eigene Inspiration zu neuen Dimensionen führt und ihr eine Tiefe verleiht, die nachher im Film für den Zuschauer erlebbar werden soll. Ja, das Betrachten von Bildern und deren Adaption für die filmische Umsetzung waren für mich, wie auch für Michael, eine ganz eigene Disziplin.

Als ich in das Restaurant trat, sah ich Martin schon an einem Tisch in einer kleinen Nische sitzen und die Speisekarte studieren. Wir begrüssten uns herzlich und ich setzte mich schon ganz aufgeregt an den für mich vorgesehenen Platz.

Nachdem wir uns ein gutes neues Jahr gewünscht, gegenseitig verschiedene Grüsse ausgerichtet und das Essen beim Kellner bestellt hatten, fixierte mich Scorsese mit seinen listigen Augen durch seine dunkel gerahmte Brille und fragte, was ich für ihn habe.

Ich lächelte ihn an und sagte: „Ich habe dir genau zwei Bilder, welche alle Facetten der Geschichte in sich vereinigen. Schönheit und Vergänglichkeit, Lust und Leidenschaft, Verführung und Melancholie, Freude und Enttäuschung, Leben und Tod. Und diese zwei Bilder werden zum visuellen Programm für deinen nächsten Film. Voller Unschuld, aber auch voller Verderben. Sie zeigen keine Landschaften, keine pompösen Villen und auch keine malerischen Strassenzüge. Sie sind eine Idee. Die Essenz, dessen, wie Michael und ich die Geschichte visuell umsetzen wollen.“

Als ich vor ihm die zwei Stilleben von de Heem ausbreitete, zeigte sich ein Lächeln auf Scorseses Lippen. Nach einer kleinen Pause schliesslich meinte er ganz lakonisch: „Ich glaube, wir müssen jetzt dringend was essen. Du hast mir Appetit gemacht.“

Samstag, 4. Januar 2014

Feuerwerk in St. Moritz



Ein leuchtendes Feuer hat uns in allen Farben ins neue Jahr geführt. Unsichtbare Delphine springen in die kalte Luft der Nacht und hinterlassen glitzernde Spritzer, die weit über dem verschneiten Tal die hohen Berge in verschiedene Farben tauchen. Es ist Neujahr.

Ein gerade richtig gewürztes Steak tartare liegt hübsch angerichtet auf unseren Tellern und die hohen Gläser, wie kleine Whirlpools, sprudeln voller Sekt, Champagner und Prosecco. Auf den Balkonen der Hotels stehen die Herren und Damen in ihren Pelzen, wie zum Abschuss bereit, und prosten sich mit kühler Gelassenheit zu. Ein Engländer, kindlich und aufrichtig von der Grossartigkeit des Feuerwerks gerührt, steht einfach nur da und wiederholt wie ein Mantra das Wort ‚gorgeous’ unzählige Male. Ein Feuerwerk in St. Moritz. Ein neues Jahr. Neue Hoffnungen. Neue Erwartungen. Neue Ängste. Ob es auch noch nächstes Jahr für St. Moritz reichen wird?

Ein Feuerwerk in St. Moritz. Etwas Fleisch zwischen den Zähnen. Säuerlicher Geschmack vom Sprudel im Gaumen. Und alles, was bleibt, ist Rauch.