Samstag, 28. Dezember 2013

Sonntagsbraten im Neuschnee




Die satt verschneiten Berghänge liegen in der Sonne, während unser tiefgekühlter Atem als kleine Wolken aus unseren Mündern steigt und sich vor unseren Augen ganz langsam um die eigene Achse dreht. Ein Nachmittag auf den Schlitten hat uns das Lachen in unsere Körper bugsiert. Und die kaum mehr von der Kälte spürbaren Finger in unseren wollenen Fäustlingen brennen und lassen sich kaum noch bewegen. Ja, nicht einmal die Stricke, welche unsere Schlitten ziehen, lassen sich richtig greifen, sondern sind nur eine spürbare Ahnung in unseren Händen.

Die Weihnachtsferien haben eben erst begonnen und Frau Holle hat uns soviel Schnee geschickt, dass vor den Häusern ganze Berge davon bis zu den Fenstern im ersten Stock reichen. Die Gassen und Strässchen im Dorf sind nur noch weisse Rinnsale, welche sich allerorten um die Ecken der Häuser winden und keinen Ausweg lassen. Aus den Kaminen steigt der Rauch und bereits sind in den ersten Fenstern Lichter zu sehen.

Mit meinem kleinen Bruder an der Hand stapfe ich durch unsere Strasse, die Uhr schlägt halb Fünf und die Sonne ist jetzt bereits hinter den Häusern und dem nahen Wald verschwunden. Als wir kaum noch 50 Meter von Zuhause entfernt sind, steigt uns schon der Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase. Es ist wieder soweit, Mutter hat heute ihren Winterbraten gemacht, der jetzt im Ofenrohr vor sich hin gart. Ein herrliches Stück vom Kalb, dass in einer dunklen Sauce mit Datteln und eingelegten Pflaumen zu einem kleinen Weihnachtswunder wird. Leicht süsslich, würzig und saftig. Mit Kartoffelstock, Rüben und Kohlrabi. Weihnachten steht vor der Tür. Und jetzt auch wir. Durchfroren und glücklich, erwartungsvoll und müde. Ja, endlich haben die Ferien begonnen und uns das Glück nach Hause gebracht.


Freitag, 20. Dezember 2013

Weihnachten in Indien



Es war im Dezember 1876, als wir auf dem Rücken unserer Dromedare vor einem Palast in Jaipur angekommen waren und die Diener sich wie lautlose Tiger geschmeidig um unser Gepäck kümmerten, während der Herr des Hauses, Sir John Collins, uns mit offenen Armen empfing und willkommen hiess. Wir waren als Forschungsexpedition für ihre Majestät Königin Victoria unterwegs – und das sich im Bau befindlichen Natural History Museum in London – und sollten die Flora und Fauna Rajasthans erkunden. Unsere Aufgabe bestand darin, Zeichnungen anzufertigen und verschiedene Exemplare pflanzlichen und tierischen Ursprungs zu sammeln, zu bestimmen und zu katalogisieren, um diese dann nach Grossbritannien verschiffen zu lassen.

Um aber während der Weihnachtszeit nicht ganz jenseits zivilisatorischen Tuns unser Dasein fristen zu müssen, lud uns Collins, der Vetter von Lady Clementia Pringsley of Walshire – einer Freundin meiner Cousine Jane-Paulina – zu sich ein, um seinen und meinen guten Beziehungen in der englischen Gesellschaft die gebührende Ehrerbietung widerfahren zu lassen.

John war ein kerngesunder Kerl von 40 Jahren, der sich hier in Indien schon so manchen Orden ergattert hatte. Vor allem aber auch ein Mann, der im Rufe stand, weitherum über die besten Köche zu verfügen, was sich, zu unser aller Freude, auch tatsächlich bewahrheiten sollte.

Zu Heiligabend, als wir schon drei Tage die Annehmlichkeiten von Federbetten, Nachmittagstee und Gingerbread genossen hatten, versammelten wir uns an einer langen Tafel, die üppig mit Goldbesteck und Kristallgläsern gedeckt war. In jeder Ecke des Saales standen Bedienstete, die uns mit grossen Fächern aus Pfauenfedern Luft zufächelten, während weiss behandschuhte Inder als Butler in Reih und Glied wie übergrosse Nussknacker dastanden. Neben unserer kleinen Expeditionsgruppe waren auch noch andere britische Offiziere und deren Gattinen anwesend, welche dem ganzen Weihnachtsfest doch noch eine etwas charmante Note zu verleihen vermochten.

Der Zauber eines indischen Gastmahls für uns Briten liegt zweifellos an der Farbigkeit und der Präsentation der Gerichte wie auch an der geschmacklichen Herausforderung, unserer, von der englischen Küche gelangweilten, Zunge etwas Neues zu erschliessen. Und genau das geschah an diesem Abend.

Zuerst gab es einen pochierten Kabejau auf einem Rote-Beete-Kuchen mit Kasundi-Senf und gebratenen Langustenschwänzen, begleitet von einer Koriandermayonnaise.

Dann wurden uns auf Holzkohle gegrillte Rebhuhnschenkel mit einem Chutney aus gedörrten Mangos, Erdnüssen und Heidelbeeren serviert.

Als dritte Vorspeise lockten im Tandoori gemachte Gemüse mit zerstossenen Meerrettichsamen, was nicht nur unsere Sinne, sondern auch unsere Nasen befreite.

Als erste Hauptspeise erwartete uns zuerst ein Lammcurry mit schwarzen Linsen und Reis, der mit Gewürzen und Hölzern geräucht wurde.

Dann wurde uns als zweite Hauptspeise auch noch ein Seeteufel mit Limonenreis an einer Mango- und Koriandersauce serviert.

Zweifelsohne hatte sich Sir John Collins damit nicht lumpen lassen und uns ein Abendessen zu Weihnachten beschert, das wie indische Tänzerinnen durch unsere wildesten Fantasien tanzte. Aber es lehrte uns auch Achtung und Demut vor einem Land, dass wir zwar erobert, aber irgendwie doch nie in seiner Komplexität und Vielfalt verstanden haben.

Dienstag, 17. Dezember 2013

Unphilosophisches über eine Käseschnitte



Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk. Das Scheiten des Holzes klingt dumpf ins stille Tal. Die Kälte des Schnees hat alle Geräusche gedämpft. Einzelne Flocken schweben wie Daunenfedern vom Himmel herab. Und Konrads Atem keucht leicht in der fast gefrorenen Luft, während seine Brissago im Mundwinkel hängt, als würde sie bald ihren Geist aufgeben. Die Glut an der Spitze ist nur noch ein kleiner Punkt, wie ein Nadelköpfchen, das auf wundersame Weise regelmässig wie ein Licht einschaltet und auschaltet, einschaltet und ausschaltet. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk.

Der Dezember hat den Schnee nun auch ins Hinterland gebracht und die Arbeit im Wald, auf der Wiese und am Bach unter einer weissen Decke zugedeckt, so dass nur noch die Kühe im dampfenden Stall, das Scheiten des Holzes, das Flicken von Werkzeug und das Kochen eines bescheidenen Mahls den Alltag bestimmen. Tock, tock, tock, krrrrk.

Über 40 Jahre schon blicken Konrads wachen blauen Augen über dieselben umliegenden Hügel, den immer gleichen Himmel, lauschen seine Ohren dem unregelmässigen Plätschern des Brunnens und dem Muhen der Kühe. Weihnachten steht vor der Tür, die Tannen im Wald und am Tisch in der Stube nur ein Stuhl. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk.

Wer fast sein ganzes Leben alleine gelebt hat, hat mit dem Alleinsein kein Problem. Man hat sich daran gewöhnt. Und man möchte sich an nichts anderes mehr gewöhnen. Tock, tock, tock, krrrrk. Ausserdem kann man tun und lassen, was man will. Und man will ja so oder so nur das tun, was man auch kann. Mehr zu wollen, wäre ein Frevel. Und wahrscheinlich der Mühe nicht wert. Tock, tock, tock, krrrrk.

Ausserdem würden die zwei alten und in Milch eingelegten Scheiben Brot nur für zwei Käseschnitten reichen. Also für nur eine Hauptmahlzeit eines Mannes. So viel konnte er dann schon noch rechnen. Ja, das Alleinsein war schon recht. Denn Teilen war nicht Konrads Stärke. War es noch nie. Tock, tock, tock, krrrrk. Ob es noch Paprikapulver hat? Tock, tock, tock, krrrrk. Appenzeller hatte es auf jeden Fall noch genug. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk. Tock, tock, tock, krrrrk.

Freitag, 13. Dezember 2013

Die grünen Eulen



Die grünen Eulen fliegen wieder. Wenn die klirrenden Dezembernächte voller Rentiere und Sternenstaub sich in die Köpfe kleiner Kinder setzen. Wenn Engelshaar wie Schneeverwehungen übers Land schwebt und gläserne Vögel auf den Zweigen der Weihnachtsbäume stumm zwitschern. Die grünen Eulen fliegen wieder.

Die grünen Eulen fliegen wieder. Wenn der Küchentisch voller Mehl ist, die Töpfe von buttrigen Spitzbuben bewohnt werden und die silbernen Schokoladenpapiere wie verheissungsvolle Blätter eines Tagesbuches Geschichten von Glück und Freude erzählen. Die grünen Eulen fliegen wieder.

Die grünen Eulen fliegen wieder. Wenn Änischräbeli und Zimtstern zu den warmen Klängen eines alten Akkordeons tanzen. Wenn Nussknacker und Katze sich ein Kissen teilen. Und wenn der Kerzenschein im Leuchten der Augen sich spiegelt und der Himmel über dem Kachelofen voller Figuren aus Salzgebäck hängt. Ja, dann fliegen die grünen Eulen wieder.

Montag, 9. Dezember 2013

Schlawiner Beat mag Austern nicht



Das Licht im Lift war unappetitlich grell, so dass Beat jede Pore seines leicht aufgedunsenen Gesichtes sehen konnte. Die Nase, wie immer leicht gerötet und mit winzigen blauen, aber gut sichtbaren Äderchen durchzogen, sass auch heute nicht so gerade im Gesicht, wie er es gern gehabt hätte. Und die Tränensäcke, wie auch die rundlichen Wangen, hatten den Kampf gegen die Schwerkraft schon lange verloren und zogen seine Visage talabwärts und zeigten dabei auf das etwas zu weit offen getragene Hemd und mit den gutgemeinten, aber eben doch zu spärlichen Brusthaaren darunter, von denen wiederum nur eine etwas zu gross geratene Goldkette abzulenken vermochte. Ja, dachte Beat, eigentlich sehe ich gar nicht so gut aus.

Aber was soll’s? So lange er bei seinen Freunden noch als Womanizer galt und auch bei den Frauen selbst als charmanter, wenn auch etwas drolliger Kerl seine Erfolge verbuchen konnte, war die Welt doch irgendwie noch in Ordnung. Und es war nicht etwa so, dass er sich dafür keine Mühe gab. Im Gegenteil, Beat tat sehr viel dafür, den Frauen zu gefallen. Er machte Komplimente, die durchaus ernst gemeint waren, hatte ein gewinnendes Lächeln und wusste die Frauen auch stets mit seinem Savoir-vivre zu überraschen. Denn Beat hatte genau die Balance gefunden, auf die Damen einen weltmännischen Eindruck zu hinterlassen, ohne dabei zu arrogant oder zu lächerlich zu wirken. Dies schaffte er zweifellos, in dem er sich selbst mit leiser Selbstironie geschickt aus der Schusslinie nahm und keine Angriffsfläche bot.

Wenn nur nicht diese Austern wären. Vor Jahren hatte er damit angefangen, neue temporäre Eroberungen mit einem Austernessen zu bezirzen. In der absoluten Gewissheit, dass dies einem schlechten Klischee entsprach, aber eben immer noch funktionierte, lud er in den letzten Jahren Marianne, Klara, Judith, Rita, Brigitte, Stefanie, Claire, Simone und Helen dazu ein und erzählte ihnen alles Geistreiche über Austern, was bei einem Tauchgang in Wikipedia herauszuholen war. Und natürlich hingen die Damen ihm an den Lippen, waren begeistert von seinen weitreichenden kulinarischen Kenntnissen und überwanden sich sogar, dieses schlabbrige und nach Hafenbecken schmeckende Etwas mit ein paar Spritzern Zitrone hinunterzuwürgen. Denn Beat war schliesslich ein netter Kerl, grosszügig und charmant, so dass man ihn nicht enttäuschen wollte. Und weil man, wie auch er, entschlossen war, die kommende Nacht nicht alleine im Bett zu verbringen, musste es einfach sein. Also runter damit. So einfach war das.

Als die Lifttüre sich öffnete und Beat in die kleine Vorhalle trat, während draussen der neue Tag die Sonne über den Horizont wuchtete und im vierten Stock über ihm Bettina noch schlafend in ihrem Bett lag, murmelte er zu sich selbst: Es ist Zeit, dass ich das auch einmal ohne Austern hinkriege. Ich mag Austern nicht. Sie sind mir zuwider. Und ich bin mir zuwider. Ich muss mir etwas Neues einfallen lassen. Aber nie wieder Austern.

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Franziskas Ausraster



Sie müssen wissen, Franziska (nein, Fränzi mag sie explizit nicht genannt werden) ist ein netter Mensch. Sie trägt immer ein Lächeln im Gesicht, ist leidenschaftliche Primarlehrerin, fürsorgliche Mutter von zwei Buben (Jonas 1 und 2) und eine warmherzige Partnerin für ihren Mann, den Jürg. Franziska wohnt mit ihrer wunderbaren Familie in einem netten Reiheneinfamilienhaus in Winterthur, lässt sich alle fünf Wochen ihren asymmetrischen Haarschnitt erneuern, trägt vorzugsweise knallrote Wildlederschuhe mit seitlichen Reissverschlüssen (weil es noch keck aussieht), bastelt ihren Ohrenschmuck selber und hat ihren Jürg dazu gebracht, im Restaurant jeweils das Dessert mit ihr zu teilen (nicht etwa, weil sie geizig wären, oder Jürg so ein Mini-Caramelköpfli nicht selbst zu bewältigen vermöchte, sondern weil es ein Ausdruck von Sozialkompetenz ist, wenn man sich Dinge teilen kann). Ausserdem arbeiten Jürg wie auch sie selbst nur 80 Prozent, weil sie das ihrer Beziehung einfach gönnen wollten und weil es auf den Wanderwegen im Tösstal ja jedes Mal immer wieder etwas Neues zu entdecken gab.

Franziska ist auch eine gute Köchin. Und vor allem im Herbst, wenn all die wundervollen Gemüse im eigenen Garten (darunter auch drei Kürbissorten!) geerntet werden können, dann lebt sie auf. Dann sieht man sie für zwei Wochen abends praktisch nur noch in der Küche, um all die herrlichen Gewächse einzukochen, zu gelieren, im eigenen Dörrofen zu dörren oder zu herrlich exotischen Chutneys zu machen, um sie dann alle an einem Stand bei ‚Afro-Pfingsten’ , dem Festival für Afrika und Worldmusic, für einen guten Zweck zu verkaufen.

Wofür aber Franziska tatsächlich legendär ist, ist ihre Kürbissuppe. Denn diese ist nicht nur eines ihrer Lieblingsrezepte, sondern auch eine Hommage an die Zeit in Indien, als Jürg und sie, noch ledig, gemeinsam zwei Monate in einem Aschram verbrachten und dabei beim Meditieren nicht nur zu sich, sondern auch zueinander fanden. Dort hatte sie auch das Zubereiten von Speisen mit Gewürzen gelernt, die hier in der Schweiz nicht so gebräuchlich waren; zumindest nicht in dieser Kombination. Darum verwendete sie für ihre Kürbissuppe ‚Ganesha’, wie Franziska ihre Eigenkreation nannte, Kokosnussmilch, Kardamom, Koriander, Sternanis, viel Curry und Kreuzkümmel. Und für diese Suppe war sie einfach legendär. Das war ihr Ding.

Als Jürg und sie letzten Samstag bei ihren Freunden Rita und Reto eingeladen waren, geschah aber das, was nie hätte geschehen dürfen. Ihre Freundin, mit der sie ins Pilates und in die Sauna ging, und mit der sie zusammen auch in einer Blockflötengruppe spielte, hatte es gewagt, Franziskas Suppe nachzukochen (was ihr zum grossen Ärger auch noch perfekt gelang, wie Jürg fand). In diesem Moment hatte sich Franziska völlig vergessen und verlor die Kontrolle. Das erste Mal seit Jahren war in diesem grauenvollen Augenblick kein Lächeln mehr auf ihrem Gesicht zu sehen. Sondern nur ein schmaler Strich zwischen zwei zusammengepressten Lippen. So, ja so hatte sich Franziska schon lange nicht mehr gehen lassen. Es war zweifelsfrei ein Ausraster gewesen.

Samstag, 30. November 2013

Fisch essen Seele auf



Als ich 1971 Rainer das erste Mal traf, war ich gerade in München, wo ich für meinen Arbeitgeber, das Seidenhaus Abraham in Zürich, ein paar Recherchearbeiten zu erledigen hatte. Zumsteg, mein Chef, hatte mich damit beauftragt, Dirndl-Schneider zu besuchen und Fotos von deren neusten Stoffkreationen zu machen, weil ihm irgendwas ‚Alpenländisches’ als Idee im Kopf herumschwirrte, dass er mit Saint-Laurent im nächsten Monat besprechen wollte.

Es war im Hotel Deutsche Eiche, wo ich zu Mittag ass und gerade ein Stück Schweinebraten auf der Gabel in den Mund schob, als sich Rainer alleine an den Tisch neben mir sass und mich von Beginn weg unverhohlen beim Essen beobachtete. Da ich Fassbinder von ein paar Fernsehinterviews her kannte, fühlte ich mich etwas irritiert, aber auch geschmeichelt. Denn offensichtlich schien ich gerade die absolute Aufmerksamkeit des aufsteigenden Sterns und Enfant terrible des Deutschen Films zu erhalten. Also lächelte ich zurück und hielt seinem Blick stand. Schnitt.

Als Rainer mich zwei Jahre, ein paar Liebesnächte und einige gemeinsamen Besäufnisse später in Zürich besuchte, um zwei Tage einfach mal weg zu sein, schlenderten wir durchs Niederdorf zu Bianchi, dem wunderbaren Delikatessengeschäft an der Marktgasse, wo ich für ein gemeinsames Nachtessen zu Hause etwas geräucherten Lachs und eine dicke Scheibe Sashimi-Thon kaufen wollte. Während wir warteten, bis die Reihe an uns war, stand Rainer wie ein kleines staunendes Kind da und betrachtete die gerupften Wachteln, Enten, Rebhühner und Poulets in der Auslage. Dann murmelte er halblaut vor sich hin: „Was diese Viecher wohl vom modernen Theater halten?“ Schnitt.

Wir sitzen beide bei mir zu Hause am grossen Holztisch und geniessen den in kleine Stücke geschnittenen Sashimi-Thon, welchen ich mit Olivenöl und Fleur-du-sel etwas mariniert habe, dazu ein Bürlibrot und eine Flasche Château Lafaurie-Peyraguey, einen herrlich goldenen Sauternes von 1966, der etwas nach Ziege, Leder und Honig roch, aber auf der Zunge ein einziges süsses Versprechen war. In meinem Kopf kreiste die Kamera von Michael Ballhaus im Kreis um uns herum – eine Technik, die er notabene bei einem Film von Fassbinder das erste Mal eingesetzt hatte und wegen der er unter anderem auch später zu einem der bedeutendsten Kameramänner der Filmbranche avancierte –, während Rainer und ich uns lächelnd ansahen, weil wir wussten, dass wir die Wohnung heute nicht mehr verlassen würden. Schnitt.

Rainer und ich liegen nebeneinander im Bett und blicken an die Decke. Dann blicke ich ihn an und sage leise: „Du lebst zu schnell. Ich mag dich sehr. Du bist für mich der wunderbarste und sonderbarste Mensch, den ich kenne. Unberechenbar, kalt und liebevoll zugleich. Du bist ein Zuviel von allem. Ein Chaos, ein Wrack, ein alter Baum. Ein verletztes Kind und eine ausgelesene Bibliothek. Und ich...ich bin der, der hier gerade zu viel redet.“ Schnitt.

Paris, 1983. Ingrid Caven und ich sitzen in der Brasserie Lipp, trinken einen kühlen Sancerre und essen dazu Saumon fumé. Rainer ist schon etwas mehr als ein Jahr tot. Und obwohl ich ihn nach seinem Besuch vor 10 Jahren in Zürich nur noch zwei Mal gesehen habe, fehlte er mir unendlich. Ingrid, die Anfang der 70er mit Rainer etwas mehr als zwei Jahre verheiratet war, lernte ich erst später über unseren gemeinsamen Freund Yves Saint-Laurent kennen, der schon über zwei Jahrzehnte ein Kunde von uns war und der für Ingrids Konzerte ein grandioses Kleid entworfen hatte. Ingrid und ich hatten uns bei einer Party bei Yves sofort verstanden; und dass wir beide mit Rainer einmal in einer Beziehung standen, hatte uns auf eine eigenartige Weise verbunden. 

„Weisst du,“ sagte ich zu Ingrid, „jedes Mal, wenn ich rohen oder geräuchten Fisch esse, muss ich an Rainer denken. Erotisch auf der Zunge, aber in Händen halten konnte man ihn nicht.“

Ingrid sah mich ganz perplex an, prustete dann aber los und lachte aus vollen Herzen. Und auch ich lachte aus vollem Herzen. Bis uns die Tränen kamen. Bis wir um Rainer weinten. Lachend und heulend. Elend und glücklich. Traurig und befreit.

Mittwoch, 27. November 2013

Mandarinen auf dem Balkon



Wenn in diesen Tagen die Sonne erst nach 8 Uhr morgens in den späten November strahlt und das Licht in einem zarten Orange die Hausmauern zu farbigen Kulissen macht. Wenn einzelne Nebelschwaden die Gewässer bevölkern und der Reif die Wiesen in silbernes Fell verwandelt. Wenn die gelben Blätter auf kaltem Asphalt wie verlorene Kinderzeichnungen ein Muster bilden und die Strassen zu einem See aus Puzzlestücken machen. Wenn ein Cello eine Melodie von Ralph Vaughan Williams wie einen Vogel in die Weite des Morgenhimmels schickt. Wenn Rauch aus den Kaminen alter Häuser steigt. Wenn die Kälte das Gesicht erstarren lässt. Wenn der Wind die Hosenbeine zu kalten Säulen verwandelt.

Dann liegen wieder die Mandarinen auf dem Balkon. In einer Schale, frisch und leuchtend, als ein Versprechen und als Kontrapunkt. Als Vorfreude auf den Advent.

Sonntag, 24. November 2013

Wie man die Eingeweide Heinrichs des VIII. zubereitet



Anne Boleyn stand mit ihrem eigenen Kopf unter dem Arm auf einer kleinen Anhöhe bei Tower Hill, von wo aus sie in die dunklen Wolken des Himmels schaute und ihren Mann aus dem Jenseits verfluchte. Vor etwas mehr als einer Woche war sie im Tower of London enthauptet worden, weil sie gegen den König ein Mordkomplott geplant und ihn mit einem inzestuösen Verhältnis mit ihrem eigenen Bruder betrogen haben soll. Doch der wahre Grund war, dass sie ihm, nach Elisabeth, der späteren Königin, keinen Knaben mehr geboren und mit zwei Totgeburten ihr eigenes Todesurteil unterschrieben hatte.

„Was denkt sich dieser fettwanstige Lümmel eigentlich. Mich einfach wie eine ausgemelkte Kuh auf die Schlachtbank zu schicken, um dann wieder ein anderes Weib zu besteigen.“

Sie war sichtlich zornig und hatte Mühe, ihren Kopf – den unter dem Arm zu halten sie noch nicht gewohnt war, und welchen sie deswegen schon ein paar Mal auf den Boden fallen lassen hatte, – jetzt nicht schon wieder in den Dreck vor ihr zu werfen. Sie wollte ihn nicht wieder verlieren und rang deshalb um Beherrschung. Eine Beherrschung, die sie sich einreden musste, um sich nicht auch noch um den Verstand zu bringen. So schluchzte sie nach dem Wutausbruch vor sich hin und erinnerte sich an die letzten Minuten ihres Lebens, um sich innerlich wieder etwas aufzubauen. Dem Augenblick, als sie den Lords und dem Henker gegenübertrat und weder um ihr Leben flehte noch ihren Mann, den König, öffentlich verunglimpfte. Sie wusste, dass sie es der Geschichte schuldig war, mit Stolz und Würde aus dieser Welt zu scheiden. Vor allem aber war sie es auch Elisabeth schuldig, dem Töchterchen, das der Willkür und dem Goodwill des cholerischen Königs ausgesetzt sein würde.

„Und dennoch verfluche ich dich jetzt, Henry. Wärst du vor wenigen Hundert Jahren in Frankreich geboren worden, hätten Hexenmeister deine Eingeweide für den Teufel zubereitet. Deine Leber wäre mit Galle verätzt, deine Niere mit Krähenfüssen gekocht und dein Herz mit Hundekot gebeizt worden. Du wärst ein Niemand gewesen, den man nicht nur bespuckt, sondern auch ausgespuckt hätte. Hörst du mich Henry?“

Heinrich der VIII. hörte sie natürlich nicht. Und es ist wissenschaftlich praktisch erwiesen, dass dieser Fluch keine Wirkung auf ihn gehabt haben dürfte. Aber dennoch behaupten böse Zungen, dass dieser Fluch der Grund dafür gewesen sei, um die unzähligen ungeniessbaren Gerichte des englischen Königreiches mit Pfefferminzsauce zu übertünchen. Man wollte fortan wegen der Angelegenheit Boleyn nie mehr einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge haben.

Donnerstag, 21. November 2013

Der erste Schnee auf unseren Tellern

Wenn die ersten Flocken vor der silbergrauen Leinwand des herannahenden Winters vor unseren Augen auf die Erde schweben. Wenn die Welt still geworden ist und nur einzelne Vögel von einem blattlosen Baum zum andern flattern. Wenn ein schwarzes Zeichenpapier auf unseren Schulpulten landet, auf das wir mit weissen Kreidestiften Schneemänner zaubern. Wenn die Nacht sich schon früh übers Land zum Schlafen legt. Und wenn die geheizte Stube nach Mandarinen duftet. Dann ist der Winter da. Und die Erinnerung daran, was schon immer zu einem Winteranfang gehörte. Ein Teller mit heissem Siedfleisch, Wienerli, Rahmspinat und Bratkartoffeln.

Dienstag, 19. November 2013

Obelix ante portas



Ich stand an einem Donnerstag im Oktober auf der Piazza Fortebraccio in Perugia und hielt ein Panini mit Porchetta in der Hand. Spanferkel, wie lange hatte ich das schon nicht mehr gegessen und wie wunderbar ist es, dass man das in Italien heute noch auf den Wochenmärkten bekommt. Dieses saftige Stück Fleisch, das nach etwas Knoblauch, Rosmarin und Oregano schmeckt, und dessen Schwarte zur knusprigen Kruste mit einem leicht süsslichen Geschmack wird, wenn man es geduldig und mit genug Bier und etwas Honig stundenlang übergiesst.

Und dieses Fleisch, das ich jetzt in Händen hielt, erinnerte mich an meine Jugend. Es katapultierte mich zurück in die Zeit, als ich nachmittags in meinem Zimmer auf der Bettdecke lag und mich davon machte. 2000 Jahre zurück. 50 Jahre vor Christus. In ein ganz kleines Dorf im Nordwesten Galliens, in dem Asterix und Obelix lebten, die den Römern trotzten, Wildschweine jagten, Abenteuer bestanden und am Ende immer ein Fest feierten. Ich war innerhalb von ein paar Sekunden um 40 Jahre jünger geworden und roch jetzt das Papier des Comics, die Bettwäsche mit ihren kleinen aufgedruckten roten Röschen und den Manchesterstoff meiner kurzen Hose. Und ich sah vor allem die grosse runde Tafel, an denen die lustigen Gallier sassen, Met tranken und den Barden Troubadix an eine Eiche gefesselt hatten. Und natürlich immer wieder Obelix, der die gebratenen Wildschweine gleich ganz zu verschlingen schien. Wie wäre ich als Kind doch gerne ein Teil dieses Festes gewesen, ein Bewohner dieses Dorfes, eine Figur aus einer gezeichneten Welt, die nichts mit dem gemein hatte, was sich bei mir im Leben gerade abspielte. Keine Schule, kein parteiischer Lehrer, keine Kletterstange, keine foppenden Mitschüler, kein Ausgelachtwerden.

Von solcherlei Gedanken in die Vergangenheit entführt, bemerkte ich plötzlich, dass mir Tränen in den Augen standen. Keine grossen, keine bitteren und keine reuevollen. Aber es waren Tränen. Ich stand hier mitten auf einem belebten Platz und weinte. Ich weinte, und ich war auf eine lächerliche Weise glücklich. Denn ich hatte Hunger. Und ich hatte ein Brot mit Spanferkel in der Hand. Und ich war jetzt Obelix.

Donnerstag, 14. November 2013

Aussteiger-Risotto im Calancatal



Santa Maria war der perfekte Ort für die beiden. Nachdem Rösli und Franz, die sich jetzt Bella und Francesco nannten, dem bünzligen Amriswil den Rücken gekehrt hatten, um dem kapitalistischen Lebensentwurf der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, fanden sie hier im Calancatal ein baufälliges Haus, das sie für 120 Franken im Monat mieten und Rustico nennen konnten. Hier war alles möglich. Selbstversorgung, Kommune, Spiritualität, Transzendenz und etwas Hanf im Garten.

Der gelernte Buchdrucker und die Kindergärtnerin wollten eine Familie gründen, die auf anderen Grundsätzen aufbaute, als jene, die sie selber in den Sechzigerjahren von ihren Eltern mitbekommen hatten. Dazu gehörten neben ein bisschen Marx, den sie nie gelesen hatten, auch Che Guevara und ein leicht zerbeulter Deux-Chevaux. Mit diesem konnte Francesco nach Roveredo pendeln, wo er einem schlechtbezahlten Job als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle nachging, den er einem deutlich besseren Angebot von einer kleinen Druckerei vorgezogen hatte. Doch Aussteiger, so seine Begründung für diesen Entscheid, konnte man sich ja nicht nennen, wenn man das Gleiche einfach an einem anderen Ort tat. Und bis das mit der Selbstversorgung dann auch wirklich selbsttragend werden würde, müsste eben doch noch etwas Stutz reinkommen. Man hatte ja auch Hunger.

Es war ein garstiger Oktoberabend, der doch tatsächlich schon den ersten Schnee gebracht hatte, als Bella mit ihrem feurigen und mit Henna gefärbten Haar tänzelnd vor dem Herd stand und in einem Risotto rührte. Im Hintergrund tourte eine LP von Marco Zappa auf dem Plattenspieler und lies das Lied „Pago tutto io“ in die kühle Kammer aufsteigen. Nichtsdestotrotz hüpfte Bella barfuss auf dem Holzboden hin und her, hielt in der linken Hand eine glühende Bidi und war einfach nur glücklich. Denn während Franz, sorry Francesco, heute wohl den ganzen Tag unzählige Schubkarren mit Flüssigbeton herumschippern musste, hatte sie sämtliche weisse Hemden und langen Röcke, die sie letzte Woche im Caritasladen in Zürich gekauft hatten, erfolgreich gefärbt, so dass nun die beiden oberen Kammern voller violetter Kleider hingen. Ja, man zeigte Flagge.

Doch nicht nur das machte sie glücklich. Sondern auch der Risotto vor ihr, der wegen dem Rotwein selber auch schon eine violette Farbe angenommen hatte. Ein violetter Tag. War das nicht eine Art Bestimmung? Bella sinnierte kurz darüber nach, lächelte und rührte dann wieder in dem Brei, der eigentlich schon seit 10 Minuten seine optimale Garzeit erreicht hatte. Aber noch etwas Violett, sprich Rotwein, konnte ja nicht schaden, hihi...und so gab sie noch einen kleinen Schluck von dem billigsten Merlot, den man im Dorf kaufen konnte, hinein.

Als fünf Minuten später Francesco durchgefroren durch die Tür trat und vor sich hinfluchte, weil er sich immer noch nicht an die Handschaltung des Deux-Chevauxs gewöhnt hatte, lachte Bella schon ganz benommen vor sich hin, als ob sie sturzbetrunken wäre.

„Hey Babe, was ist denn mit dir los“, fragte er etwas lächelnd und doch auch ein wenig beunruhigt.

„Fraaaaaancesco, ich liebe dich. Und ich habe soooooo gut für dich gekocht. Der Risotto ist einfach ein Wahnsinn“, stammelte Bella vor sich hin und lächelte ihn dabei wirr an.

„Was ist denn im Risotto drin?“, fragte Francesco.

„Im Risotto“, fragte Bella jetzt kurz verdutzt und fuhr dann fort, „was soll da denn drin sein? Hihihi. Rotwein, Peperoni, Zwiebeln, Bouillon, Petersilie und dann noch von dem Maggikraut, dass du im Garten gepflanzt hast. Du weisst doch, das mit diesen komischen Blättern. Du hast mir zwar gesagt, dass ich es nicht fürs Kochen brauchen sollte, aber irgendwie fand ich dann das doch schade.“

Francesco wurde ganz bleich. Und fragte dann Bella: „Und wie viel hast du davon reingetan?“

„Ach Schätzchen, keine Sorge, ich glaub genug.“

Sonntag, 10. November 2013

Hat Zwetschgenbaum Benjamin ein Glück



Benjamin war nicht mehr der Jüngste. Mit beinahe 70 Jahren hatte er als Zwetschgenbaum schon ein langes und glückliches Leben hinter sich, fühlte sich dabei immer noch kräftig, war gesund und trug jedes Jahr Früchte, dass es eine Freude war. Und das kam auch nicht von ungefähr, denn die Besitzer des Gartens, in dem er stand, trugen Sorge zu ihm. Jeden November, wenn die Vegetationspause bereits eingesetzt war, schnitt man ihn grosszügig zurück und entfernte die Äste, die lose herunterhingen, sowie die vielen jungen Triebe, die der Entwicklung von starken Haupttrieben hinderlich waren. Zweifelsohne verstanden seine Besitzer, wie man sich um ihn sorgen sollte.

Doch zu Benjamins Glück trug auch der Umstand bei, dass er an einem sonnigen Platz vor einem wunderbaren herrschaftlichen Haus wuchs und direkt in die Küche blicken konnte. Denn so sah er seit mehr als sechzig Jahren, was Generationen dieser Familie aus seinen Zwetschgen zu zaubern vermochten. Und seien wir ehrlich, ist es nicht einfach das schönste auf der Welt, wenn man zum Glück anderer auch etwas beitragen kann? Und macht es nicht stolz, wenn man dafür seine eigenen Früchte liefern konnte?

Wäre ein umtriebiger und einfallsreicher – wenn auch leicht verrückter – Journalist eines Gourmet-Magazines auf die Idee gekommen, ihn, Benjamin, zu interviewen, hätte dieser mit Sicherheit die wunderbarsten Zwetschgenrezepte in Erfahrung gebracht. Doch wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und so liegt es nun an dem Elefanten auf die Leiter zu steigen, Benjamin danach zu fragen und dafür die Früchte zu ernten. 

„Lieber Benjamin, erzähl uns doch mal, welche Zwetschgenleckereien du im Laufe deines langen Lebens schon entstehen sehen hast.“

„Tja, mein lieber Elefant, wo soll ich da nur beginnen? Natürlich bin ich etwas nervös, denn schliesslich ist dies ja mein erstes Interview. Entschuldige also, wenn ich nicht ganz so strukturiert in der Beantwortung dieser Frage vorzugehen verstehe. Aber ich denke, ich erzähl dir einfach einmal frei aus meinen Erinnerungen. 

Meine ersten Erinnerungen habe ich an Magda, die damalige Herrin des Hauses. Sie war eine sehr fröhliche Person und hatte immer ein Liedchen auf den Lippen. Wenn sie mich mit einer langen Stange schüttelte, um die reifen Früchte zu Fall zu bringen, sang sie immer ‚Chumm mir wei go Chriesi günne’, was ich zwar etwas irritierend fand. Aber sie machte die herrlichsten Konfitüren und Gelées, einen wunderbaren Zwetschgenkompott, fein duftende Zwetschgenwähen und ein Zwetschgen Chutney, dem sie mit Zwiebeln, Chili, Essig und Zucker eine scharfe Säure verlieh, welches mit Vorliebe zu einem gebratenen Stück Rindfleisch gereicht wurde.

Als dann Emma, Magdas Tochter, die Herrin im Haus wurde, begann die grosse süsse Periode. Sie war eine wirkliche Künstlerin, wenn es um Kuchen, Torten, Crèmes und Parfaits ging. Aber ihr ganz besondere Spezialität war die Zwetschgentorte, welche sie haargenau wie eine Zuger Kirschtorte machte, dafür aber eben Zwetschgen und Zwetschgenwasser verwendete und mit diesem kleinen Trick alle Gäste immer wieder aufs Neue zu begeistern vermochte.

Nach Emma kam ihr Sohn Lukas an den Herd. Er war ein begeisterter Hobbykoch und liebte Geflügel aller Art. Zum Beispiel mit Zwetschgen gefüllte Wachteln im Ofen gebacken. Zwetschgenknödel mit rosa gebratener Entenbrust. Oder zum Dessert ein Zwetschgenmousse auf mit Zucker gebrannten Mandelsplittern und Sauerrahmeis. Er war eindeutig der üppigste Koch von allen.

Und dann kam schliesslich Lilly. Ach Lilly. Wie war sie begnadet. Wenn sie in der Küche stand, wusste ich, dass mich weder Sturm noch Blitz und Donner davon abhalten konnten, ihre Arbeit am Herz zu bewundern. So zauberte sie zum Beispiel einen würzigen Pulposalat mit Zwiebeln und etwas Petersilie auf einen leichten Zwetschgenschaum, den sie mit einem Rahmbläser auf die Teller applizierte. Oder der halbe Hummer, dessen Fleisch sie mit einem süssen Zwetschgengelée hauchzart überzog. Und dann ihre Emulsion aus Zwetschge und Wildconsommé, welche sie in schmalen Gläsern zu selbst gebackenen Wildterrinen-Chips servierte. Lilly war eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Heute steht Kaspar oft in der Küche. Er wohnt mit seinem Lebenspartner Marco zusammen und kocht all die Rezepte, welche seine Familie in all den Jahrzehnten gesammelt und in ein Buch geschrieben haben. Dort, auf der Anrichte liegt es. Es sieht schon ziemlich speckig aus, aber ich glaube, darin verbirgt sich ein grosser Schatz.“

Der Elefant drehte sich umständlich auf der Leiter um und blickte nun ebenfalls durch das nahe Küchenfenster. Und tatsächlich, da lag ein dickes Buch mit einer handgeschriebenen Etikette. Darauf zu lesen war: „Benjamin, der Zwetschgenbaum, der hat Schätze, man glaubt es kaum.“

Mittwoch, 6. November 2013

Hier kocht Poesie.



Maria stand in der Küche und blickte auf die matte Chromstahlfläche der Anrichte, die wie ein silberner See vor ihr lag. In Gedanken versunken, liess sie die Sonne durchs Fenster ihre hohen Wangenknochen kitzeln und schien die Wärme des Lichts weder auf der Haut noch in den wilden lockigen Haaren zu spüren, die zu einem buschigen Wirrwarr zusammengeknotet waren. In sich eingekehrt, wartete sie lauernd auf einen Einfall zu einem Menü, mit dem sie heute Abend ihre Gäste bezaubern wollte. Und da es Freitag war, musste es Fisch sein, so viel war ihr schon einmal klar.

Plötzlich sah sie aus dem Fenster direkt in die Sonne, als hätte sie gerade eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Die anfänglich hochgezogenen Augenbrauen des Erstaunens entspannten sich schnell und machten einem Lächeln Platz, das sich langsam auf ihrem Gesicht ausbreitete und zu verraten schien, dass die Idee für ihren Küchenzauber nicht mehr weit sein konnte: Tucholsky. Es musste wie ein Gedicht von Kurt Tucholsky sein.

„Ich habe dir alles hingegeben / mich, meine Seele, Zeit und Geld. / Du bist ein Mann – du bist mein Leben / du meine kleine Unterwelt.“

Maria erinnerte sich wieder an dieses melancholische Gedicht, das voller Zärtlichkeit und Wehmut von einer tief empfundenen Liebe und der damit einhergehenden Verletzlichkeit erzählte, weil sich diese Liebe wohl nie gänzlich erfüllen mochte.

„Doch habe ich mein Glück gefunden, / seh ich dir manchmal ins Gesicht. / Ich kenn dich in so vielen Stunden – nein, zärtlich bist du nicht.“

Was wohl dazu passt? Ein Gedicht, das vielleicht in den Zwischenkriegsjahren im Berlin der Zwanziger geschrieben wurde? Einer Zeit, wo die Menschen den kommenden Beinahe-Weltuntergang ums goldene Kalb tanzend vorweg nahmen? Champagner musste auf jeden Fall Teil davon sein. Aber nicht in seinem Glanz und seiner Extrovertiertheit, sondern viel mehr als raffinierter Bestandteil eines Gerichtes.

„Du küsst recht gut. Auf manche Weise / zeigst du mir, was das ist: Genuss. / Du hörst gern Klatsch. Du sagst mir leise, / wann ich die Lippen nachziehn muss.“

Ein Champagnersauerkraut mit Meerfischen wäre genau das Richtige, lächelte Maria. Denn dieses Gericht hatte für sie schon immer eine Art Zwiespältigkeit dargestellt. Eleganz und Archaik auf einem Teller vereint.

„Du bleibst sogar vor anderen Frauen / im gut gespielten Gleichgewicht; / man kann dir manchmal sogar trauen... / aber zärtlich bist du nicht.“

Und dazu würde sie natürlich Salzkartoffeln servieren, die sie aber kurz in geschmolzenem Zucker karamellisieren würde, um zwischen der Säure des Sauerkrauts und dem archaischen Geschmack der verschiedenen Meerfische eine überraschende süsse Verbindung zu schaffen, die mit etwas Vanille und Kardamom zu einer aussergewöhnlichen Harmonie werden dürfte.

„O wärst du zärtlich! / Meinetwegen / kannst du sogar gefühlvoll sein. / Mensch, wie ein warmer Frühlingsregen / so hüllte Zärtlichkeit mich ein!“

Maria strahlte nun übers ganze Gesicht, denn sie hatte den Hauptgang soeben gefunden. Alles andere war nur noch eine Frage der Komposition. Denn Vorspeise, Zwischengang und Nachspeise würden sich nun ganz leicht daraus ableiten lassen. Dafür würde ihr der Markt, den sie gleich aufzusuchen beabsichtigte, mehr als genügend Optionen bieten. Denn genau das war es, was ihre Kochkunst ausmachte. Sie brauchte einen Anfang. Einen Einfall. Ein Gedicht.

„Wärst du der Weiche von uns beiden, / wärst du der Dumme. Bube sticht. / Denn wer mehr liebt, der muss mehr leiden. / Nein, zärtlich bist du nicht.“

Samstag, 2. November 2013

Barockes Gaumenerlebnis

Barock ist hellblau, zartlila und chamoisfarben. Er glänzt als goldene Verzierung oder manierierte Stuckatur vom Himmel herab und leuchtet mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages in einen blass blauen Himmel hinein, unter dem sich verspielte Wellen eines türkisfarbenen Meeres auf einer Linie kunstvoll kräuseln. Barock ist auch die Klangwelt von Bach und Händel, in denen die Freude und das Leid der Menschen zur vollkommenen Schönheit werden. Wo Tod und Geburt sich versöhnend die Hände reichen, um als zartbitterer Trost dem Leben einen Sinn zu geben. Barock schmeckt nach gebratenen Rebhühnern in zerlassener Butter mit Estragon. Nach mit Pflaumen gefüllten Tauben, die man in vergorenem Apfelsaft und der Beigabe von aufgequollenen Rosinen mariniert hat. Und natürlich auch nach zuckrigem Backwerk, das einen Hauch von Butter, Vanille und Kreuzkümmel in die Nase steigen lässt. Barock ist die materialisierte Üppigkeit. Pralle Hintern, schneeweisse Frauenbrüste und beleibte Kardinäle mit Gold überwucherten Fingern. Barock ist der Apfel der Verführung. Ausgelassenes Schweinefett in Tontöpfen. Weiss gepuderte Lockenköpfe. Barock ist die trügerische Vorstellung von Luxus und Pomp, hinter der sich ganz andere Wahrheiten verstecken. Barock ist eine Realität, die traumwandlerisch neben tiefsten Abgründen einher geht und nur darauf wartet, mit gnadenloser Gewalt vom Sockel gestossen zu werden. Barock ist wie ein letztes Abendmahl.

Freitag, 18. Oktober 2013

2 x 2 Nachtessen mit Elefant à la crème zu gewinnen.



Elefant à la crème zieht es für zwei Wochen in die Regenwälder Thailands. Dort wird er sich nicht nur an herrlichen Curries, fangfrischem Fisch und exotischen Früchten laben, sondern im Geiste auch bei seinen Lesern sein.

Damit Sie, liebe Geniesser, auch etwas davon haben, können Sie mit diesem Wettbewerb ein Nachtessen für 2 x 2 Personen bei und mit Elefant à la crème gewinnen. Dafür brauchen Sie nur alle 10 Fragen, die sich in diesem Blog mit etwas Lesefreude leicht beantworten lassen, mit den richten Lösungen zu kombinieren. Mit etwas Glück sitzen Sie schon bald am wunderbar gedeckten Tisch und dürfen sich verwöhnen und unterhalten lassen.

Einsendeschluss ist der 3. November. Sollten mehrere Teilnehmer alle Fragen richtig beantwortet haben, entscheidet das Los.

Elefant à la crème wünscht Ihnen allen viel Glück und Freude an der Teilnahme.

Frage 1
In welcher Stadt werde ich kulinarisch von Marie-Antoinette verführt?

Frage 2
Welches von Schmetterling Hannelore gesungene Lied finden Easy Riders etwas daneben?

Frage 3
Zu welchem Restaurant sind wir unterwegs, während wir den Klängen von Lambchop lauschen?

Frage 4
Mit welchem Auto möchte ich Meryl Streep zum gemeinsamen Lunch abholen?

Frage 5
Wer möchte nicht zum wahrscheinlich längsten Cordon bleu verarbeitet werden?

Frage 6
Wie heissen die Anwälte, die gerne hochachtungsvoll Aufträge ablehnen?

Frage 7
In welchem Zustand wird ein Tango ohne Vorwarnung getanzt?

Frage 8
Für wen war Gian-Peiders Jagdglück keines?

Frage 9
Mit wem trinkt „La Clara“ eine letzte Tasse Tee?

Frage 10
Welche süsse Verführung vergeht auf meiner Zunge?

Senden Sie Ihre Antworten per E-mail bitte an elefantalacreme@gmail.com

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Ein Apfelkuchen aus gutem Grund



Es sind die Stunden der Belanglosigkeit, die uns in der Leere des Alltags auf Schritt und Tritt begleiten. Es sind die unbedeutenden Momente, die als Wasserzeichen auf einem weissen Papier in der Erinnerung verblassen. Es ist das diffuse Licht des Nebels, das uns wie ein kalter Schleier umschlingt und die Welt wie einen alten Schwarzweissfilm aussehen lässt.

Elisabeth sah aus dem Fenster und dachte wieder einmal über das Leben nach. Sie zog dafür verschiedene Gedankensplitter aus dem Fleisch der Vergangenheit, bis der Schmerz und die Kälte ihr Tränen in die Augen trieben. Wie unendlich traurig sie doch sein konnte. Und wie untröstlich hilflos ihr die Aussichten auf die Zukunft vorkamen. War das wirklich ihr Leben? 

Die Stille in der Stube sass irgendwo in der Ecke und beobachtete Elisabeth, als wäre sie eine Wissenschaftlerin, die gerade ihre eigene Schwerkraft entdeckt hatte. Der dämmernde Tag tauchte die Gegenstände im Zimmer in ein kaltes Grün, dessen Leuchtkraft schon vor Jahren erloscht sein mochte. Alles war tief und dunkel und vollkommen ohne Hoffnung.

„Was ist los mit dir, Elisabeth? Reiss dich zusammen. Lass dich nicht immer so gehen. Und vor allem, bemitleide dich nicht andauernd.“

Die Stimme in ihrem Kopf schüttelte sie an ihren Schultern und öffnete ihr die Augen. Wieder einmal war sie ihr zur Hilfe gekommen und hatte ihren Gedankenfluss, dessen Tiefen immer unergründlicher wurden, unterbrochen.

„Schau Elisabeth, du bist nicht allein. Du hast deine Gedanken. Und du hast die Kraft, diese in eine andere Welt zu verwandeln. Du kannst mit ihnen in deiner Fantasie fremdgehen, ohne dass du dich deshalb verraten müsstest. Du bist deine Gedanken und was du daraus machst. Du bist alles, was du sein willst. Das verstehst du doch?“

Elisabeth blickte in die Nacht hinaus und sah Schneeflocken fallen. Der erste Schnee. Grosse, weisse Schneeflocken, die innert Kürze die Welt in einen luftigen Schneeball verwandelten, der lautlos durch das Universum geschleudert wurde. Elisabeth sah Millionen von Sternen, die wie Glühwürmchen auf einer Tribüne sassen und den Flug des Schneeballs beobachteten und diesem als begeistertes Publikum applaudierten. Und dort, auf den Ringen des Saturns, sass ein Weihnachtsmann, der sich wie ein betrunkener Bayer am Oktoberfest auf die Oberschenkel klopfte und dabei beinahe hysterisch kicherte. Ja, Elisabeths Gedanken konnten die Welt noch verändern. 

Und als gerade ein kleines Lächeln verstohlen auf ihr Gesicht huschte, dachte Elisabeth, dass es jetzt wohl an der Zeit wäre, sich wieder dem Leben zuzuwenden. Und das konnte nur eines bedeuten. Sie musste sich einen Apfelkuchen backen.

Samstag, 12. Oktober 2013

Die Tücken eines Sandwiches



Pierre Moulin, seines Zeichens Koch im kanadischen Quebec, blickte in den Herbsthimmel und dachte: „Viele Köche haben daran zu beissen, einer eigenen kulinarischen Kreation einen passenden Namen zu geben. Dabei ist es doch viel schwieriger, die verschiedenen Zutaten in der richtigen Kombination zwischen die zwei Brotscheiben zu bringen. Vor allem dann, wenn es darum geht, genau in der richtigen Hundertstelsekunde das Sandwich zusammenzuklappen.“

Nichtsdestotrotz hatte er das Sandwich mit fangfrischer Wildgans noch nicht ganz abgeschrieben.

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Ein Kindersommertag vergeht auf meiner Zunge



Die Lichter und Farben sind oft die einzigen Erinnerungen an die Sommer der Kindheit, die uns als impressionistisches Gemälde ein paar Momente festgehalten haben. Man sieht die hellen und dunkeln Stellen, die je nach dem von der Sonne oder vom Schatten in Sekundenschnelle herausgearbeitet wurden, und die dem Bild eine Dynamik und eine Tiefe verleihen. Auch das Beige, das marmorfarbene Grau und die unendlich variierenden Grüntöne sind in diesen Erinnerungen immer wieder präsent und bilden eine Szenerie, hinter der sich die eigene Geschichte vermuten lässt.

Wir sehen kleine nasse Fussabdrücke auf Steinplatten, die in wenigen Augenblicken von den Sonnenstrahlen getrocknet werden. Lilafarbene Malventürme vor einer verwitterten und grau gewordenen Holzfassade. Kleine Echsen auf Sandsteinmauern. Verrostete Eisenzäune, um die sich wilde Reben ranken. Und dort, gleich unter dem Laub, ein Feuersalamander.

An solch einem Tag steh ich als kleiner Junge neben dem Dorfbrunnen und halte ein Glacé in der Hand, das wie ein grosses Versprechen all die kleinen Sorgen meines Schulalltags vergessen lässt. Ein cremiges Wunder mit Schokolade- und Bananengeschmack, das ich mein ganzes Leben lang nie mehr vergessen werde.

http://www.gasparini.ch/Home.html

Samstag, 5. Oktober 2013

Ave Pelecanus occidentalis



Marcus Gavius Apicius spazierte gerade gemächlich auf der Via Sacra, als er am Himmel einen braunen Pelikan erblickte, der wie ein Götterbote über dem Palatin kreiste und sich durch die Wirren des römischen Alltags nicht beeindrucken liess. Gerade hatte Apicius einen kleinen Disput mit dem Senator Marcellus Scipio hinter sich gebracht, mit dem er nicht nur seine Leidenschaft für den Müssiggang, sondern auch für die gute Küche teilte. Dabei ging es wieder einmal um die Frage, wie ein Siebenschläfer richtig zuzubereiten war. Durfte man ihn mit Fischsauce, die jeglichen Geschmack übertünchte, servieren? Oder war es schicklicher, denselben mit Honig, Kreuzkümmel und Koriander zu verfeinern, um ihm eine leicht exotische Note angedeihen zu lassen? Wo gab es die besten Seeigel zu erstehen? Und konnte man eine gut gestopfte Gans einem Freund mit Saubohnen servieren? Oder doch eher mit in Honigwein eingelegten Feigen und Datteln?

Feldherren und Kaiser mochten Feldzüge führen und in fernen Territorien Eroberungen machen. Senatoren und Aristokraten mochten über die Bedeutung der Republik diskutieren. Und Sklavenhändler und Plebejer mochten sich für jeden Denar gegenseitig die Köpfe einschlagen. Doch sie alle würden nie im Stande sein, sich beim Fluge dieses Pelikans eine Mahlzeit vorzustellen. Beim Jupiter, wo waren hier nur die Prioritäten geblieben?

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Speck für magere Zeiten



Juri spazierte durch das nahe Birkenwäldchen und blickte durch die bereits orange gefärbten Blätter in die Septembersonne. Jedes Jahr war es dasselbe. Er erfreute sich einerseits an der Schönheit der sich gerade verändernden Natur und litt gleichzeitig an der Tatsache, dass er heute wieder seine Lieblinge, die jungen Schweine, zum Schlachter bringen musste. Der Wurf des Frühjahres war reif für das Messer. Und er sollte es seinerseits für deren letzten Gang sein.

Das Leben hatte Juri unfreiwillig zum Henkershelfer gemacht. Hier in der russischen Taiga hineingeboren, war eine Biographie als Bauer einfach viel ergiebiger als die eines Dichters. Und wenn ihm auch das Schreiben immer ein grosser Trost war, so konnte es ihn hier in der Weite Russlands, fernab von grossen Städten, doch nicht ernähren. Und weder der Vater noch die Mutter hatten damals das Geld, ihn länger als ein paar Jahre in die Schule zu schicken. Dass er überhaupt schon eine Schule besuchen durfte, kam einem kleinen Wunder gleich. Denn zweifelsohne war der Zar mehr an einem ungebildeten und arbeitssamen Volk, als an denkenden Menschen interessiert. Und diese Weltanschauung schien sich bis zu der Beamtenschaft in den äussersten Provinzen durchzusetzen, wo Neid, Habgier und Geltungssucht je länger je mehr das Klima im ganzen Reich vergifteten. Und ein Bauernjunge hatte das zu bleiben, was er war: ein Untertan des Adels, der für das Wohl der anderen zu leiden hatte.

Ach ja, selbst die schönen Tage im Herbst konnten Juri nur für kurze Zeit erheitern. Aber er haderte mit seinem Schicksal, und die Aussichten, dass er noch heute seine klugen Schweinchen ans Messer liefern musste, trübten seine Laune, wie ein kalter Nebeltag, nur noch mehr ein. Und dann kam ihm auch seine Mutter in den Sinn, die das Leiden ihres Sohnes durchaus schon lange bemerkt hatte, und die ihm mit ruhiger Stimme stets zu sagen pflegte: „Ich weiss, mein lieber Juri, es schmerzt dich, wenn du die Schweinchen zum Schlachter bringen musst. Aber denke daran, weil sie dir so lieb waren, hatten sie ein gutes Leben. Ein kurzes, aber gutes Leben. Das ist mehr, als viele Menschen bei einem langen Leben zu erwarten haben. Und vergiss auch nicht, dass nur Menschen Dinge im Leben ändern können, die eine Vorstellung davon haben, was ein gutes Leben sein könnte. Und ich glaube, du hast das Zeug dazu. Vielleicht nicht heute. Aber der Tag wird kommen. Und wenn es dann soweit ist, wirst du merken, dass du Veränderungen nur dadurch erreichen kannst, wenn du Liebgewordenes hinter dir lässt.“

Und wenn die Mutter dann sah, dass auch dieses Zureden bei Juri keine Früchte trug, weil er ihre Binsenwahrheiten schon lange nicht mehr für bare Münze nahm, doppelte sie gleich nach und sagte mit einem Lächeln: „Und was die Schweinchen angeht, denk daran, wie gerne du den Geruch von gebratenem Speck hast.“

Nein, seine Mutter war nicht dumm. Und sie kannte ihn immer noch besser, als er es sich eingestehen wollte. Auch heute, wo die warme Septembersonne den lieben Schweinchen den Rücken das letzte Mal wärmte.

Samstag, 28. September 2013

Auf eine letzte Tasse Tee



„Das Grosse und das Tiefe in der Musik von Richard Strauss liegt nicht in den Tönen, den Takten oder den Tempi. Ja, nicht einmal in den Klängen. Auch was die Interpretation betrifft... ach, die wird ja sowieso überschätzt. Was ist schon eine Interpretation? Was kann eine Interpretation denn schon leisten? Nein, das Grosse an Strauss’ Musik ist das Davor und das Danach. Die Weite jenseits der tatsächlich komponierten Musik. Es ist der nicht hörbare Kontext, der sich als Metakommunikation über das Werk ausbreitet. Das Ahn- und Fühlbare. Das Woher und das Wohin. Glauben Sie mir, hätte ich nur gesungen und interpretiert, dann wäre mein Erfolg vollkommen ausgeblieben. Stimmumfang, Tonfarbe, Phrasierung, Klangtiefe, Reinheit; das alles sind nur Schlagworte für selbstgefällige Kritiker, arrogante Musikwissenschaftler oder devot veranlagte Musikliebhaber im Konzertsaal. Aber das hat mit Singen nur wenig zu tun, das sind allenfalls technische Angaben dazu, was eine Sängerin leisten kann. Doch was eine Sängerin um jeden Preis leisten muss, ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Gewollten. Welche Empfindung hat Strauss hier ausdrücken wollen? Welche Erinnerungen mochte er gehabt haben? Wie viel Schmerz musste er für die Komposition erleiden? Was hat es ihn gekostet, solche Musik mit anderen teilen zu müssen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen. Das zu erkennen und fühlen zu können, macht die Musik erst gross. Es ist die simple Voraussetzung, um einem Lied annähernd gerecht zu werden. Es ist auch die Bedingung dafür, Glück und Genugtuung beim Singen erfahren zu können. Noch etwas Tee?“

Clara Imfeld blickte dem Tod geradewegs in die Augen und zeigte ein spöttisches Lächeln. Es war diese Kaltschnäuzigkeit, die sie sich ihr Leben lang angeeignet und verinnerlicht hatte und die sie für sich zu nutzen wusste. Sie hatte sich daraus eine Karriere als Sängerin komponiert und war eine der ganz grossen Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts geworden. Was sie dabei für ihre Bewunderer besonders auszuzeichnen schien, war ihre unbeirrbare und intellektuelle Herangehensweise an ein Werk. Sie sang keine Lieder oder Arien, sondern sie lebte Musik. Sie litt Berg, atmete Mozart, betete Bach und starb Wagner. Sie beeindruckte Dirigenten zutiefst, brachte Regisseure zur Verzweiflung und zeigte dem Publikum die kalte Schulter. Sie kreiste an den Konzerten wie ein schwarzer Vogel über den Köpfen der Zuschauer, der Musikerkollegen und der Veranstalter, um dann mit Wutanfällen, Crescendi oder – was wohl das Schlimmste sein mochte – mit Verachtung dem Ausdruck zu verleihen, was sie so einzigartig und eigen machte. Dennoch hatte sie damit Erfolg, wurde gehätschelt und umschwärmt. Man liebte ihre kompromisslose Haltung, ihre Arroganz und ihre Unnahbarkeit, weil man wusste, dass sie all diese schlechten Angewohnheiten und fragwürdigen Charaktereigenschaften nicht ihrer Person, ihrer Reputation oder ihrer Eitelkeiten wegen angenommen hatte, sondern weil es für sie als Künstlerin wohl gar keine andere Wahl gab, als so zu sein. Sie war für ihre Bewunderer ganz einfach ‚La Clara’.

„Ich habe keine Angst, zu gehen, mein lieber Tod. Auch ich halte die Zeit für gekommen. Es wird nicht mehr besser.“ Ein feines Lächeln huschte jetzt über die Lippen der Sängerin und ein zärtlicher Blick flog wie ein Sommervogel flatternd durch den Raum, der bei jedem Flügelschlag eine Erinnerung aus einem reichen Leben wegzuklatschen schien. 

„Wissen Sie, ich habe mir das ganz anders vorgestellt, das Sterben. Nicht etwa dramatisch, oh nein. Das hatte ich ja schon zu Genüge während meiner Arbeit durchleben müssen. Und oft genug auf schmerzhafte Weise mit einer Begleitung, die entweder den Ton nicht getroffen, oder die einfach zu chargiert von der Bühne geplärrt hatte, so dass man dieser Person am liebsten ein grosses Pflaster übers Maul geklebt hätte.“ Angewidert wischte sie diesen Gedanken mit der einen Hand sogleich wieder weg und änderte abermals den Ton.

„Ich habe mir das Sterben erbärmlich vorgestellt. Habe mich als kränkliche Frau gesehen, die man wie einen durchgetretenen Teppich in die Ecke stellt und darauf wartet, bis sie in sich zusammenfällt.“

„Haben Sie lange auf mich gewartet?“, fragte der Tod.

„Nein, ich glaube nicht,“ erwiderte sie, „nicht, dass ich mich erinnern würde.“ Doch kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, stutzte sie und es schien, als würden ihre Gesichtszüge für einen Augenblick den Atem anhalten. Dann sah sie dem Tod unverwandt in die Augen und plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf: „Doch natürlich habe ich Sie erwartet. Hier drinnen,“ sie klopfte mit der Faust fest gegen ihre Brust und fuhr fort, „hier habe ich es gefühlt. Jeden Tag, schon ein paar Wochen. Es wurde immer leichter und leichter und...ich war schon lange bereit.“

„Das ist gut so.“ erwiderte der Tod ihren entschlossenen Blick, wandte dann den Kopf aus dem Fenster und betrachtete zwei grosse Pappeln, die unweit vom Hause standen.

Dienstag, 24. September 2013

Das Linsengericht zu Casablanca



Es war im Jahre 1942, als ich für die amerikanische OSS (Office of Strategic Services) in Marokko stationiert war, und dort sowohl in Tanger wie auch in Casablanca je ein wunderbares Stadthaus bewohnte. Beide Anwesen waren mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, so dass ich mit prunkvollen und verschwenderischen Parties Gäste empfangen konnte, um diese dann nach Strich und Faden auszuspionieren. Offiziell galt ich als junger und reicher Fabrikantensohn aus dem mittleren Westen, dessen Eltern es mit Stahl zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hatten. In Wirklichkeit aber war ich einfach ein ziemlich mittelloser Kellner gewesen, der sich in Los Angelos durch die Schlafzimmer der reichen Schwulenszene geschlafen hatte.

Als mich in einem ebensolchen Schlafzimmer der stinkreiche Jack McMurphy einmal fragte, ob ich Lust hätte, auf die gleiche Weise in Nordafrika dem Vaterland zu dienen, war nicht nur mein naiver Abenteurersinn geweckt worden, sondern auch die Sehnsucht nach einer anderen Kultur – und nicht zuletzt auch die Aussicht auf eine Gelegenheit, die mir, für damalige Zeiten, ein sehr luxuriöses Leben versprach. So landete ich als Edelstricher an der Meeresenge von Gibraltar und führte ein nicht ungefährliches, aber dennoch angenehmes Leben als schwules Herrensöhnchen, der sich deutschen Offizieren und Agenten anzudienen hatte. 

Da ich jahrelange Erfahrungen als Flittchen hatte, das seine Dienste fast nur in den vornehmsten Villen des Sunset Boulevards anbot, nahm man mir den reichen Lebemann ohne weiteres ab. Denn ich konnte bezirzen, schamlos lügen und hatte eine Moralvorstellung, die so tief unter der Gürtellinie lag, dass man diese von blossem Auge wohl nicht erkennen konnte. Doch neben diesen allzu menschlichen Fähigkeiten hatte ich auch ein wirkliches Talent anzubieten: Ich konnte kochen. Und das sprach sich sehr schnell herum.

Am 5. August 1942 hatte ich einen deutschen Spion mit dem Namen Otto von Pfannkuchen in einer zwielichtigen Bar kennengelernt, der auf unüblich leichte Weise zu verführen war. 

Geheimagenten-Dialog anno 1942:
Otto von Pfannkuchen: „Na mein Hübscher. Wie wär es mit etwas Scharfem?“
Ich: „Gekocht, eingelegt oder flachgelegt?“ 

Kaum zu Hause angekommen, begaben wir uns zuerst in die Pfanne und dann in die Küche, wo ich uns ein kleines Linsengericht zubereitete, nach dessen Genuss Otto von Pfannkuchen mir aller Wahrscheinlichkeit nach alle wichtigen Informationen bereitwillig geben würde. Denn zu den roten Linsen gab ich etwas Stechapfel hinzu, was als Halluziogen eine wirklich hervorragende Wirkung zeitigte – aber bei ungenauer Dosierung ebenso tödlich sein konnte. Dann applizierte ich auf die Linsen einen Löffel Crème fraîche, die hier wirklich nicht leicht zu bekommen war, setzte einen Tupfer Sambal darauf, und krönte das Ganze mit in Knoblauch gebratenen Langustenschwänzen, was insgesamt eine überaus delikate Kombination darstellte.

Nachdem wir beide das Essen genossen hatten – ich meinerseits natürlich ohne die Variante mit dem Stechapfel –, plauderte Otto von Pfannkuchen alle seine Geheimnisse wie ein kleines unschuldiges Kind aus. Seine unerwiderte Liebe zum Führer, seine erotischen Träume über Mussolini, seine privaten Körperertüchtigungen mit ein paar Strebern der Hitlerjugend sowie das Bekenntnis, dass Männer in Kampfstiefeln – eigentlich die ganze deutsche Wehrmacht – ihn beinahe um den Verstand bringen würden. Mit anderen Worten, genau das, was niemanden bei der OSS interessieren würde. In diesem Fall half nur noch eines: mehr Stechapfel.

Mittwoch, 18. September 2013

Zitronenfalter in luftigem Eis



Jakob blickte aus dem Fenster und sah unter sich ein Meer von Wolken, während die Mittagssonne bald ihren Zenit erreichen würde. Vor knapp 2 Stunden war er am Narita International Airport in Tokyo in den Airbus A340-300 der Swiss gestiegen und musste daran denken, was er kurz zuvor in einem National Geographic gelesen hatte.

In einem Artikel über Schmetterlinge erfuhr er, dass Zitronenfalter, als einzige Art in Europa, im Freien überwintern und dabei selbst Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius überleben konnten. Eine, aus hauptsächlich Glykol bestehende, Körperflüssigkeit würde es dem Falter ermöglichen, die Körpertemperatur so tief zu senken, dass er in eine Art Ruhestarre fällt. 

Verschneite Zitronenfalter an Zweigen hängend, was für ein Bild, dachte Jakob. Ein gelber Sommervogel unter einer kleinen Schneeschicht, der den Wintermonaten trotzt und dort ausharrt, bis ihm die wärmenden Sonnenstrahlen wieder Leben einhauchen. Doch was Jakob dabei wirklich faszinierte, war die Idee, dieses Bild in eine kleine kulinarische Überraschung zu verwandeln, welche er in seinem Restaurant seinen Gästen servieren lassen konnte. Denn schliesslich war es ja die Inspiration gewesen, die ihn für ein paar Wochen nach Japan reisen liess, um neue Eindrücke und Einfälle für sein Restaurant zu gewinnen. Und den eben erst erhaltenen dritten Michelin-Stern würde er mit all seiner Kreativität, seinem Einfallsreichtum und seinem ganz aussergewöhnlichen Sensorium immer wieder aufs Neue verdienen müssen. So liess er sich im Land der aufgehenden Sonne nicht nur von der Küche, sondern auch von der Kultur, der Lebensweise wie auch der Kunst inspirieren. Und dass ihn genau jetzt dieser Zitronenfalter zu denken gab, schien für ihn kein Zufall zu sein. Er hatte hier seine Sinne für Neues geöffnet, hatte die Augen weit aufgetan und konnte nun sehen, dass scheinbar abstrakte Linien, das Leben genau widerzuspiegeln vermochten, als wäre ein Tuschestrich eine ganze Lebensgeschichte. 

All dies flatterte ihm nun wegen dem Zitronenfalter durch den Kopf. Ein Koch, ein erstklassiger Koch, hatte die Aufgabe, diese Geschenke des Zufalls anzunehmen und in genussvolle Köstlichkeiten zu verwandeln. Und während andere Köche daraus eine extravagante Vorspeise, einen verspielten Hauptgang oder ein aufwändiges Dessert machen mochten, lag seine Stärke darin, das Offensichtliche und Naheliegende zu machen und damit zu überraschen. Es musste zweifelsohne ein Zitroneneis sein. Ein Zitroneneis mit etwas Sauerrahm, einem Schuss Vollrahm, vielleicht auch etwas in Milch aufgeschäumtem Ingwer, Zitronengras – und Safran. Ja, das Eis sollte wie ein Zitronenfalter im Schnee leuchten und so leicht und luftig schmecken, als wäre es ein flüchtiger Gedanke, der trotz allem noch lange in Erinnerung bleiben würde.

Samstag, 14. September 2013

Planetenbäume im Bergell



Alberto lag unter dem Blätterdach einer Edelkastanie und blickte zu den braunen und haarigen Kugeln, welche die Früchte dieses Baumes in sich trugen. Erst vor ein paar Wochen waren er und seine Geschwister noch im Sommerhaus in Maloja am Silsersee gewesen und hatten den flatterhaften Flug von Schmetterlingen und das Schweben der Bienen über Türkenbund beobachtet. Doch jetzt lag er hier und blickte zu den Kastanien hoch, die für ihn aussahen, als wären es kleine Planeten am durch Schatten dunkelgrün gefärbten Himmel.

Kastanien waren nicht nur das Brot der Bäume und Armen, sondern bedeuteten für Alberto auch die Vorfreude auf das feine Marronipüree, das seine Mutter wieder machen würde. Hergestellt mit Milch, Zucker, Kirschwasser und Vanillestengeln aus dem fernen Afrika, welche Freunde des Vaters – allesamt ebenfalls Künstler und Maler – jeweils aus Milano mitzubringen pflegten, um der Familie Giacometti eine Freude zu machen. 

Doch jetzt hatte Alberto nur Augen für diese kleinen stacheligen Planeten und fragte sich, wo im Universum diese wundersamen Sterne wohl wohnen mochten. Und wie würde man sie erreichen können? Die Flugzeuge, die es seit ein paar Jahren gab, wären dafür wohl alles andere als geeignet gewesen. Nein, es müsste etwas Grösseres sein. Etwas, dass so unfassbar und übernatürlich war wie diese Planeten an den Bäumen. Planetenwanderer. Menschen mit langen Beinen und schmalen Körpern, welche diese Sterne einfach vom Himmel pflücken konnten. Menschen, die nicht innehielten und auf der Milchstrasse mit grossen Schritten von Stern zu Stern hüpfen konnten. Und er, Alberto, wollte diese Planetenwanderer schaffen.

Mittwoch, 11. September 2013

Hadrians Wal



Man muss es einfach einmal sagen. Hadrian Schläpfer hatte nicht nur einen grössenwahnsinnigen Vater – wer sonst hätte seinen Sohn nach einem römischen Kaiser benannt –, sondern war wohl selber nie mit Bescheidenheit in Kontakt gekommen. Einerseits, weil er immer die grössten und teuersten Boliden kaufte, mit denen er Cannonball-Rennen durch die Schweiz fuhr – ‚missing balls’ würde dem wahrscheinlich etwas näher kommen – und dann auch noch mit affigen Youtubefilmchen damit im World Wide Web anzugeben pflegte. Andererseits, weil er sich jeweils von seinem Coiffeur Kurt eine Frisur verpassen liess, die wie eine Kopfverletzung in Zeitlupe aussah. (Sie können sich darunter nichts vorstellen? Macht nichts. So wollen sich das gar nicht vorstellen.)

Auf jeden Fall hatte Hadrian letzthin doch tatsächlich behauptet, er hätte im Fählensee einen Schwertwal (Orcinus orca) ausgesetzt, um Wabe-Sushi im grossen Stil zu produzieren. Wabe-Sushi? Genau, das habe ich ihn auch gefragt. Und dann wollte er mir weismachen, dass er den Wal regelmässig mit Quöllfrisch von der Brauerei Locher in Appenzell einreiben lässt, was das Fleisch besonders zartmachen würde. Auf die folgende Frage, ob sich denn das so leicht bewerkstelligen liesse, blieb er mir die Antwort allerdings schuldig. Aber eben, das ist Hadrian.

Sonntag, 8. September 2013

Der süsse Allerwerteste



Louis starrte versonnen an die Decke und betrachtete den goldenen Putenengel, der mit seinen zwei kleinen Kameraden vier Meter über dem Boden schwebte. Seine goldenen prallen Beinchen und Ärmchen sowie seine geblähten Pausbacken glänzten speckig im Licht der Morgensonne, während sein lachender Blick direkt auf seine königliche Majestät herab grinste und diesen offensichtlich amüsiert bei seiner morgendlichen Reitstunde beobachtete. Währenddessen sass Madame de Pompadour auf dem Becken des Königs und bewegte sich, das Glied in sich aufgenommen, wie hoch zu Pferd im Galopp auf und ab und brachte hin und wieder einen hohen Laut der Ekstase hervor. Dass sie diesen Ausritt nicht im ansonsten vom Hof geforderten Damensitz bewerkstelligen konnte, lag hier offensichtlich in der Natur der Sache. (Was hier aber eigentlich nichts zur Sache beizutragen vermag.)

Der Regent von Frankreich und Navarra, ansonsten durchaus für die morgendlichen Turnstunden der Wollust zu begeistern, sah aber weiterhin fasziniert an die Decke und fragte sich, was der Engel wohl gerade denken mochte. Hielt er ihn für einen gerechten König? Für einen grossen Liebhaber? Für einen klugen Herrscher? Oder einfach für den kleinen verwöhnten und pummeligen Dauphin, der er noch war, als sein Onkel an seiner Statt die Regentschaft übernommen hatte?

„Louis! Was ist los? Du bist ja überhaupt nicht bei der Sache“, empörte sich die Pompadour, deren Perücke durch das ständige Auf und Ab leicht verschoben wie der schiefe Turm von Pisa über ihr thronte. 

„Oh, entschuldige ma chère, aber ich war gerade etwas in Gedanken versunken“, flüsterte er sanft in das, sogar unter dem dick aufgetragenen Puder, sichtlich erkennbar gerötete Gesicht seiner Mätresse, deren kleine Nase sich, durch die libidinöse Anstrengung, wie mit den Flügeln eines kleinen Singvogels aufplusterte.

„Hast du Sorgen, mein Liebster?“, erkundigte sich die Pompadour nun leicht erschrocken.

Der König aber lächelte ihr in die Augen und liess dann den Blick zu einem anderen Putenengel an der Decke schweifen, der ihm, den Rücken zugewandt, seinen Allerwertesten präsentierte. „Es ist alles bestens“, sagte er mehr zu sich als zu ihr, während er jetzt den prallen Hintern des goldenen Engels fokussierte „ich habe einfach etwas Hunger.“

„Oh, wenn das so ist, dann sollten wir vielleicht etwas zu essen kommen lassen. Nach was steht dir denn der Sinn?“, fragte die langsam wieder zu Atem kommende Geliebte.

Louis XV. neigte leicht den Kopf, so dass er den Arsch des goldenen Engels nun aus einer anderen Perspektive sehen konnte, und antwortete schliesslich mit einer kleinen Erregung in der Stimme: „Ich glaube ein paar Macarons wären jetzt durchaus angebracht.“

Donnerstag, 5. September 2013

Der Sound, der nach Toskana schmeckt



Landschaften stehen für Erinnerungen, die uns ein ganzes Leben lang begleiten. Und ein Moment kann aus einer Gegend ein faszinierendes biografisches Panorama machen, das wir für immer vor unseren Augen behalten werden, auch wenn wir versuchen, die Dinge mit der Zeit anders zu sehen. Erinnerung ist etwas Sonderbares. Aber sie ist auch etwas Wunderbares. Denn sie lässt uns einen Ort zur Heimat werden.

Als eine erste Liebe und ich vor 25 Jahren mit dem neuen Cabriolet meines Vaters – ein saharabeiger Crysler LeBaron – auf der Landstrasse von Colle di Val d’Elsa nach Monteriggioni fuhren und die Abendsonne noch heiss auf unsere Gesichter brannte, drang aus den Lautsprechern die schleichende Melodie von Miles Davis’ „All Blues“. Wie ein seidener Schleier legten sich die Trompetentöne sanft auf die umliegenden Hügel und malten mit einem weichen Pinsel ein paar Sonnenstrahlen auf die Äcker, die abwechslungsweise mit Mais oder Sonnenblumen bepflanzt waren; oder ganz einfach nur brach lagen. 

Mit diesen Augenblicken und den schwebenden Klängen von Miles Davis prägte sich mein Bild von der Toskana für den Rest meines Lebens in meinem Gedächtnis ein. Eine Fahrt, begleitet von den Farben Gold, Blau, Rostrot, Gelb und Grün in allen Varianten. Eine Fahrt zum „Il Pozzo“ in Monteriggioni, wo wir damals mit den herrlichsten Trüffel-Tortelli belohnt wurden, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Und eine Fahrt, die ich seither unzählige Male und in der gleichen Weise wiederholt habe. Denn Landschaften können zur Heimat werden, auch wenn man dort nie wirklich zu Hause war. Und ihm Gegensatz zu einer ersten Liebe, bleibt uns diese für immer erhalten.

Montag, 2. September 2013

Gian-Peiders Jagdglück



Gian-Peiders Puls pochte wie eine grosse Männerfaust auf seinen Brustkorb, während er seinen Finger immer noch am Abzug hielt. Der Schuss schien noch durch das Tal zu hallen, während das Zwitschern der Vögel auf einen Schlag einer gespenstischen Ruhe gewichen war. Der Wald lag in einem matt blauen Licht vor ihm, und die Bäume standen wie anthrazitfarbene Giacometti-Skulpturen unentschlossen und erschrocken um ihn herum. Er hatte getroffen. Und Casutt, der Sauhund, lag etwa 20 Meter von ihm auf dem Rücken und blickte mit blind offenen Augen in die Baumkronen, die er nicht mehr sehen würde. Nie mehr.

Die Jagd war immer schon Gian-Peiders Leidenschaft gewesen. Jeden Herbst trieb es ihn in die Wälder, auf die Kreten und Berge, zu den einsamen Bergweiden und manchmal sogar ins Unterholz. Und er war ein ausgezeichneter Schütze. So gut, dass ihm genau das jetzt zum Verhängnis werden konnte. Denn, was er als einen üblichen, wenn auch leider tödlichen, Jagdunfall aussehen lassen wollte, präsentierte sich jetzt als kaltblütiger Mord, da der Schuss Casutt mitten an der Stirn getroffen hatte. Und zwar genau in der Mitte. Das Einschussloch war so präzise gesetzt worden, dass ein jedes Kind zum Schluss kommen musste, dass das kein Unfall gewesen sein konnte. Nicht, wenn man Gian-Peider kannte. Sein Jagdehrgeiz und Jägerehre hatte ihm einen Streich gespielt.

Langsam senkte er nun das Jagdgewehr und blickte auf den leblosen Körper. Sofort schossen tausend Gedanken durch seinen Kopf, welche Folgen dieser eine Schuss nun haben würde. In jeder Ecke seiner Hirnwindungen suchte er einen kleinen Notausgang, war sich aber durchaus bewusst, dass er diesen nicht finden würde. Jeder im Tal würde wissen, dass er den Casutt nicht versehentlich erwischt hatte. Und ein jeder würde ihn deshalb bedauern. Denn sie wussten alle, wie sehr Casutt dieses Los verdient hatte. Doch was nützte ihm das jetzt? Das halbe Dorf hatte es gestern erfahren, dass sie heute beide auf die Jagd gehen würden. Oder zumindest der ganze Stammtisch des Crusch Alva, was eigentlich auf dasselbe hinaus lief. Nein, die Angelegenheit sah ganz und gar nicht gut für ihn aus.

Wie lange würde es wohl dauern, bis man Casutt finden würde? Wohl nicht allzu lang. Der Caviezel hatte ja ebenfalls angekündigt, heute oder morgen sein Jagdglück zu versuchen. Stattdessen würde er wohl zu einem Finderlohn kommen. Und natürlich würde man der Polizei auch sofort seinen Namen nennen. Denn in den Verdacht zu geraten, den Tod des Dorfkrösus zu verantworten, wollte niemand auf sich kommen lassen. Nein, man konnte es drehen und wenden, wie man es wollte: es gab keinen Ausweg. Was blieb, waren höchstens noch ein paar Stunden, vielleicht ein oder zwei Tage, Schonfrist. In dieser Zeit würde er seine Angelegenheiten zu Hause regeln müssen. Denn wenn er schon ins Loch musste, dann sollte das wenigstens mit etwas Anstand geschehen und nicht zu einer unaufgeräumten Sache verkommen. Schliesslich war er kein Feigling oder Dummkopf gewesen. Und zu einem solchen wollte er jetzt auch nicht mehr werden, wenn auch gerade dieser Schuss tatsächlich eine grosse Dummheit gewesen war.

Doch plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht und die Augen begannen zu glänzen. Gab es vielleicht doch einen Ausweg? Konnte die Geschichte glaubhaft noch so gedreht und gewendet werden, dass man ihm den Unfall doch glauben wollte? Oder bestand gar die Möglichkeit, dass man Casutt hier nicht vor dem Winter finden würde? War das der Grund dieses Lächelns?

Nein, davonkommen würde er nicht mehr, das wusste er, aber es würde noch einmal für einen Rehrücken in der Krone reichen. Und damit sah das Schicksal für ihn entschieden etwas weniger düster aus.