Sonntag, 10. November 2013

Hat Zwetschgenbaum Benjamin ein Glück



Benjamin war nicht mehr der Jüngste. Mit beinahe 70 Jahren hatte er als Zwetschgenbaum schon ein langes und glückliches Leben hinter sich, fühlte sich dabei immer noch kräftig, war gesund und trug jedes Jahr Früchte, dass es eine Freude war. Und das kam auch nicht von ungefähr, denn die Besitzer des Gartens, in dem er stand, trugen Sorge zu ihm. Jeden November, wenn die Vegetationspause bereits eingesetzt war, schnitt man ihn grosszügig zurück und entfernte die Äste, die lose herunterhingen, sowie die vielen jungen Triebe, die der Entwicklung von starken Haupttrieben hinderlich waren. Zweifelsohne verstanden seine Besitzer, wie man sich um ihn sorgen sollte.

Doch zu Benjamins Glück trug auch der Umstand bei, dass er an einem sonnigen Platz vor einem wunderbaren herrschaftlichen Haus wuchs und direkt in die Küche blicken konnte. Denn so sah er seit mehr als sechzig Jahren, was Generationen dieser Familie aus seinen Zwetschgen zu zaubern vermochten. Und seien wir ehrlich, ist es nicht einfach das schönste auf der Welt, wenn man zum Glück anderer auch etwas beitragen kann? Und macht es nicht stolz, wenn man dafür seine eigenen Früchte liefern konnte?

Wäre ein umtriebiger und einfallsreicher – wenn auch leicht verrückter – Journalist eines Gourmet-Magazines auf die Idee gekommen, ihn, Benjamin, zu interviewen, hätte dieser mit Sicherheit die wunderbarsten Zwetschgenrezepte in Erfahrung gebracht. Doch wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und so liegt es nun an dem Elefanten auf die Leiter zu steigen, Benjamin danach zu fragen und dafür die Früchte zu ernten. 

„Lieber Benjamin, erzähl uns doch mal, welche Zwetschgenleckereien du im Laufe deines langen Lebens schon entstehen sehen hast.“

„Tja, mein lieber Elefant, wo soll ich da nur beginnen? Natürlich bin ich etwas nervös, denn schliesslich ist dies ja mein erstes Interview. Entschuldige also, wenn ich nicht ganz so strukturiert in der Beantwortung dieser Frage vorzugehen verstehe. Aber ich denke, ich erzähl dir einfach einmal frei aus meinen Erinnerungen. 

Meine ersten Erinnerungen habe ich an Magda, die damalige Herrin des Hauses. Sie war eine sehr fröhliche Person und hatte immer ein Liedchen auf den Lippen. Wenn sie mich mit einer langen Stange schüttelte, um die reifen Früchte zu Fall zu bringen, sang sie immer ‚Chumm mir wei go Chriesi günne’, was ich zwar etwas irritierend fand. Aber sie machte die herrlichsten Konfitüren und Gelées, einen wunderbaren Zwetschgenkompott, fein duftende Zwetschgenwähen und ein Zwetschgen Chutney, dem sie mit Zwiebeln, Chili, Essig und Zucker eine scharfe Säure verlieh, welches mit Vorliebe zu einem gebratenen Stück Rindfleisch gereicht wurde.

Als dann Emma, Magdas Tochter, die Herrin im Haus wurde, begann die grosse süsse Periode. Sie war eine wirkliche Künstlerin, wenn es um Kuchen, Torten, Crèmes und Parfaits ging. Aber ihr ganz besondere Spezialität war die Zwetschgentorte, welche sie haargenau wie eine Zuger Kirschtorte machte, dafür aber eben Zwetschgen und Zwetschgenwasser verwendete und mit diesem kleinen Trick alle Gäste immer wieder aufs Neue zu begeistern vermochte.

Nach Emma kam ihr Sohn Lukas an den Herd. Er war ein begeisterter Hobbykoch und liebte Geflügel aller Art. Zum Beispiel mit Zwetschgen gefüllte Wachteln im Ofen gebacken. Zwetschgenknödel mit rosa gebratener Entenbrust. Oder zum Dessert ein Zwetschgenmousse auf mit Zucker gebrannten Mandelsplittern und Sauerrahmeis. Er war eindeutig der üppigste Koch von allen.

Und dann kam schliesslich Lilly. Ach Lilly. Wie war sie begnadet. Wenn sie in der Küche stand, wusste ich, dass mich weder Sturm noch Blitz und Donner davon abhalten konnten, ihre Arbeit am Herz zu bewundern. So zauberte sie zum Beispiel einen würzigen Pulposalat mit Zwiebeln und etwas Petersilie auf einen leichten Zwetschgenschaum, den sie mit einem Rahmbläser auf die Teller applizierte. Oder der halbe Hummer, dessen Fleisch sie mit einem süssen Zwetschgengelée hauchzart überzog. Und dann ihre Emulsion aus Zwetschge und Wildconsommé, welche sie in schmalen Gläsern zu selbst gebackenen Wildterrinen-Chips servierte. Lilly war eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Heute steht Kaspar oft in der Küche. Er wohnt mit seinem Lebenspartner Marco zusammen und kocht all die Rezepte, welche seine Familie in all den Jahrzehnten gesammelt und in ein Buch geschrieben haben. Dort, auf der Anrichte liegt es. Es sieht schon ziemlich speckig aus, aber ich glaube, darin verbirgt sich ein grosser Schatz.“

Der Elefant drehte sich umständlich auf der Leiter um und blickte nun ebenfalls durch das nahe Küchenfenster. Und tatsächlich, da lag ein dickes Buch mit einer handgeschriebenen Etikette. Darauf zu lesen war: „Benjamin, der Zwetschgenbaum, der hat Schätze, man glaubt es kaum.“

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