Montag, 1. September 2014

So viel zu Kochkunst



Willy Maywald und ich schlenderten an einem Herbstabend im Jahr 1951 von der Metro-Station Alma Marceau kommend die Avenue George V hoch, bis zum gleichnamigen Hotel, wo wir uns mit der gemeinsamen Freundin Peggy Guggenheim zum Cocktail verabredet hatten, die jeden Monat für ein paar Tage dort zu wohnen pflegte, um in der französischen Hauptstadt ein paar Einkäufe zu machen, welche ihre mittlerweile doch recht ansehnliche Kunstsammlung in Venedig ergänzen sollten.

Während die letzten Blätter der umstehenden Kastanienbäume sich nach einem heftigen Windstoss von den Ästen gelöst hatten und uns um die Köpfe wirbelten, zeichnete sich um Willys Mund ein zufriedenes Lächeln ab und das Leuchten aufgeregter Zufriedenheit hatte sich in seinen Augen breit gemacht, so dass er vollkommenes Glück ausstrahlte. Er hatte heute den ganzen Tag für Christian Dior eine neue Kreation in Szene gesetzt und dabei ein paar ausserordentliche Bilder zustande gebracht. Und wenn auch Willy vor allem ein sehr stiller Schaffer und sanftmütiger Mensch war, so kam es doch hin und wieder vor, dass er nach einer besonders geglückten Arbeit so aufgeregt und nervös wie ein kleiner Bub sein konnte, der sich auf den ersten Anblick des üppig geschmückten Christbaumes und die darunter liegenden Geschenke zu freuen schien.

Da ich wusste, wie sehr er diese Momente genoss, schritt ich schweigend neben ihm her und liess ihn sein Glück des Gelingens auskosten. Spätestens in fünf Minuten, wenn wir mit Peggy zusammentreffen würden, wäre es mit dieser Einkehr vorbei und man würde sich dann über die Kunst, die Künstler, die Mode, die Fotografie im Allgemeinen, Willys Fotografie im Speziellen und über die Olive im trockenen Martini unterhalten. Denn wenn Peggy Hof hielt, dann sprangen die Themen wie junge Rehkitze von einem Ort zum anderen und man befand sich in einem Kaleidoskop von Gefühlen, Gedanken und Ideen, welche sich mit jeder Bewegung vollkommen verändern konnten.

Und als wir zwei Stunden später immer noch mit Peggy auf den samtbezogenen Fauteuils in der Halle sassen und uns bereits ausführlich über Jean Cocteaus neue Projekte und Liebhaber, Alberto Giacomettis Heimatverbundenheit und Mutterliebe sowie Peggys Hunde unterhalten hatten, ein paar Drinks gekippt waren und unser Lachen immer ungezwungener wurde, spreizte die Lady in unserer Mitte plötzlich ihre Hände vor sich aus und gebot uns in ihrem leicht beschwipsten Zustand Stille, als müsste sie uns etwas von ausserordentlicher Wichtigkeit mitteilen. Und weil das in Peggys Fall alles Mögliche sein konnte, schraken Willy und ich tatsächlich wie Schulbuben zusammen und verstummten. Dann blickte uns die Mäzenin über die Ränder ihrer Brille ernst an und meinte dann, dass es jetzt aber wirklich Zeit wäre, über Ernsthaftes zu reden. Und ohne irgendeine Reaktion von uns abzuwarten, oder die Wirkung ihrer Ansage in Form unserer Überraschung auszukosten, hiess sie Willy und mich, sie in das Restaurant zu begleiten, um ein Kunstwerk zu essen. Richtig, ein Kunstwerk zu essen.

Da wir Peggy schon ein paar Jahre kannten und mittlerweile wussten, dass man ihren Rätseln mit penetrantem Nachfragen auf den Grund gehen musste, fragten Willy und ich sie gerade heraus, was denn heute für sie kulinarisch ein Kunstwerk darstellen könnte? Von dieser Frage nun doch etwas erstaunt, blickte sie uns überrascht in die Augen und meinte dann, am liebsten wäre ihr eine köstliche Kleinigkeit von Kandinsky, Miró und Dior.

Und da ich überhaupt keine Ahnung hatte, was sie damit meinen könnte, blickte ich scheu nickend und etwas flehend Willy an, in der Hoffnung, dass zumindest er eine Eingebung haben würde. Und tatsächlich, schon nach ein paar Sekunden strahlte er uns an und meinte: er wüsste genau, wonach ihr der Sinn stehen würde.

Und kaum dreissig Minuten später sassen wir auch schon im Speisesaal des George V und liessen uns von drei Kellnern jeweils einen Teller mit einer silbernen Cloche vorsetzen. Und da weder Peggy noch ich wussten, was Willy beim Chef de Service für uns bestellt hatte, staunten wir nicht schlecht, als die drei Cloches vor unseren Augen entfernt wurden und auf jedem Teller ein perfekt zubereitetes Spiegelei lag.

Donnerstag, 28. August 2014

Gourmet-Spätzli Charlie



„Wissen Sie, das war ja mal wieder so ein richtiger Scheisssommer. Als Spatz kriegt man das Wetter eben vor allem in der Stadt noch mit. Da kann eine Hecke noch so dicht bewachsen, Büsche und Sträucher sich aufs Prächtigste ausbreiten und die Schlupfwinkel in den Häusern für einmal nicht von Mauerseglern oder Tauben besetzt sein. All das hilft nichts, um einen Sommer erträglicher zu machen. Und es ist auch nicht die Kälte, die uns zusetzt, denn für etwas haben wir ja unser Gefieder.

Was uns aber wirklich an die Substanz geht, sind all die geschlossenen Gartenbeizen, die fehlenden Sandwichverzehrer und die Wurstvertilger, welche ihre Bürlis und Brötchen mit der einen Hand so zusammenquetschen, dass knusprige Krümel wie eine Gerölllawine auf den Boden fallen. Ich meine, so was nennen wir bei uns einen anständigen Broterwerb. Und davon hatten wir diesen Sommer eindeutig zu wenig.

Und natürlich können jetzt all die sechsmalklugen Ornithologen kommen und sagen, dass unsere Spezies nicht dafür geschaffen wurde, von den Brotkrumen der Menschen zu leben. Aber hey, auch wir haben uns weiterentwickelt und sind in der Evolution ein paar Flügelschläge weitergeflogen. Und wenn man uns auch immer wieder beleidigend als verbale Prügelknaben für die Dümmsten unter den Menschen benutzt, so sind es doch unsere Spatzenhirne, die sich in einer brutalen und tierverachtenden Welt zu adaptieren wussten. Und damit noch nicht genug: wir haben es verstanden, als Vögel akzeptiert zu sein.

Und glauben sie mir, wenn Sie einmal mit einem Freund von mir, dem Täubchen Paul, sprechen würden, dann wüssten Sie, wie Menschen Tiere zu hassen wissen. Okay, ganz unschuldig sind sie auch nicht. Ich habe Paul ja schon oft gesagt, er soll nicht überall hinscheissen. Schliesslich wurden seine Tante Ursula, seine Cousins Reto und Kaspar sowie seine eigene Schwester Heidrun zu Opfern dieser schlechten Gewohnheit. Und ich sage Ihnen, der Wildhüter von Zürich hat da wirklich einen sehr guten Job gemacht. Ein richtiger Killer ist das. Der kennt keine Gnade.

Doch sprechen wir wieder von etwas Angenehmeren. Wie Sie ja wissen, bin ich als Testesser in der Stadt Zürich nicht gerade ein Grünschnabel. Und mein Gourmetführer wird allseits bewundert und von sehr vielen Feinschmeckervögeln geschätzt. Und da sehe ich bei einem solch schlechten Sommer eben auch sofort die wirtschaftlichen Realitäten. Ich bin aufs schöne Wetter angewiesen. Wie sonst könnte ich denn all die Strassen, Plätze, Gassen und Gartenbeizen auf ihre kulinarischen Vorzüge hin testen? Und wenn es natürlich auch bei uns die Klassiker gibt, die stets empfehlenswert sind, so möchten der Spatz und die Taube von Heute ihren Horizont ständig erweitern und neue Plätze entdecken. Es ist essentiell, dass man seine Leser mit Geheimtipps, Auffliegern des Jahres und neuen Bewertungen bei der Stange hält. Und wer bei uns einmal mit drei Schnäbeln bewertet wurde, kann sich sicher sein, dass ihm die Spatzen und Tauben die Bude einflattern.

Hoffen wir also, dass der September noch etwas wärmer und schöner wird und dass ich meine Arbeit tun kann. Schliesslich habe ich nicht vor, meinen guten Ruf als Gourmet zu verlieren. Und Sie wissen ja, wenn man einmal locker lässt, dann pfeifen es die Spatzen sofort von den Dächern.“

Freitag, 22. August 2014

Vier Oscars für einen Hackbraten


Da sass ich doch gestern mit Katharine Hepburn zusammen beim Tee und wir sprachen über ihr Leben, das sie nach einer fast unnachahmlichen Karriere mit vier Oscars, einer grossen Liebe und einer Krebserkrankung nach 96 Jahren verlassen hatte, um der Welt nun von ihrer Wolke aus zuzuschauen.

Wieder einmal hatten mich meine guten Beziehungen mit dem schrulligen Herrn da oben – sorry meine Damen, aber Gott ist tatsächlich keine Frau – zu einer Legende geführt, die auch nach ihrem Tod kein Bisschen von ihrem Sarkasmus verloren hatte und sich sehr darüber freute, dass sie Spencer Tracy nun auch offiziell nahe sein durfte. So war es auch nicht erstaunlich, dass die wirklich sehr elegante und etwas androgyn wirkende Dame gleich zu Beginn die Bemerkung fallen liess: „Ach, wenn die Kirche da unten auf dem Planeten nur wüsste, dass Gott ein alter Hippie ist und dass hier im Himmel nicht die unendliche, sondern vor allem die freie Liebe gelebt wird, würden sie wohl ihren alten Herrn geradewegs exkommunizieren. Aber irgendwie scheinen die sich da unten den Spass selbst einfach gönnen zu wollen.“

Doch natürlich war ich als kulinarisch beflissener Elefant nicht in den Himmel geflogen, um mit Katharine Hepburn über ihr erotisches Nachleben zu sprechen, sondern weil ich irgendwo mal aufgeschnappt hatte, dass sie eine leidenschaftliche Köchin gewesen sei, was nur ganz wenige wussten, die einen ganz hervorragenden Hackbraten zu machen wusste. Und diese Nachricht war für mich einfach ein absoluter Primeur, dem ich mit eigenen Recherchen auf den Grund gehen wollte. Denn schliesslich würde man diese grossartige Schauspielerin wohl eher mit Canapés in Zusammenhang bringen als mit einem so rustikalen Essen, für das man sich die Hände wirklich ‚schmutzig’ machen musste.

Aber genau das war es, was die Zubereitung eines Hackbraten für Frau Hepburn zu einer Leidenschaft werden liess: „Was glauben Sie wohl, mein Lieber, wie oft ich im Laufe meiner Karriere gerne jemanden erwürgt hätte? Studio-Bosse, Spencers Ehefrau, Konkurrentinnen, Journalisten, Paparazzi, Republikaner...die Liste ist beinahe unendlich. Da war der Griff in die Schüssel, um die Hackbratenmasse zu erdrosseln doch eine sehr gangbare Alternative. Und da ich ja das Ding anschliessend auch essen musste, ohne dabei meine Selbstachtung zu verlieren, war es nur recht und billig, dass es nach was richtig Gutem schmeckte.“ Und ergänzend merkte sie an: „Jedes Mal, wenn ich Humphrey Bogart zum Essen eingeladen hatte, was nach dem Krieg doch hin und wieder einmal vorkam, fragte er mich beim Anblick des Hackbratens, wer denn jetzt wieder hätte dran glauben müssen. Das ging soweit, dass er mich zeitweise nur noch die Hackbratenwürgerin nannte.“

Auf die Frage, was denn ihr Rezept für einen feinen Hackbraten ausmache, meinte sie ganz lapidar: „Genügend Wut. Das macht die Konsistenz wunderbar fein.“ Das zwar nicht die Antwort, die ich erhofft hatte, aber irgendwie schien es mir nicht höflich zu sein, hier nochmals nachzuhaken.

Sonntag, 17. August 2014

Signora Lucelli



Hoch über uns spannte sich ein weiter stahlgrauer Himmel, während die morgendliche Luft, noch kühl von der Nacht, Signoras Lucellis und meine Augen wie Taunebel befeuchteten und unseren Blick klar werden liessen. Es war noch nicht 6 Uhr und die Vögel sowie die Grillen waren weit und breit das Einzige, was wir zu hören bekamen.

Wir befanden uns in der Umgebung von Tavernelle, einem kleinen Ort zwischen Florenz und Siena, wo die Wälder zum Pilzsammeln einladen. Und weil ich gerade für die New York Times einen Artikel über Pilzgerichte schrieb, schien es mir opportun, mich in ein Flugzeug zu setzen, um über Zürich nach Florenz zu fliegen und mich an Signora Lucelli zu wenden, welche selbst eine kleine Osteria betreibt und als eine grossartige Köchin gilt, die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihre umwerfenden Pilzgerichte bekannt ist, mit der Bitte, mir ein paar Geheimnisse zu verraten. Etwas darüber erstaunt, dass ich dafür extra aus den Staaten herangereist war, hatte sie nichts dagegen einzuwenden, sondern fühlte sich wohl sogar etwas geschmeichelt, soweit ich das an ihrem sehr zurückhaltenden Lächeln, das zu interpretieren schon eine Kunst für sich war, erkennen konnte, und hiess mich heute Morgen um 5 Uhr in der Früh bei ihr vor der Haustüre stehen.

„Sie werden von mir keine Rezepte erhalten, mein Lieber,“ sagte Signora Lucelli gleich als Erstes zu mir, „aber Sie werden mich in den nächsten vier Tagen begleiten können und dann sehen, was hinter meiner Art zu kochen tatsächlich steckt. Und ich kann Ihnen sagen“ und dabei sah sie mich mit einem süffisanten Lächeln, das jetzt tatsächlich auch als eines auszumachen war, von oben bis unten an und schloss mit den Worten, „mit Ihren Halbschuhen werden Sie dabei nicht weit kommen. Also, bis morgen mein Lieber.“

Nachdem ich also gestern noch hastig in einem Sportgeschäft in Colle di Val d’Elsa ein Paar Wanderschuhe gekauft hatte, stand ich jetzt mit Signora Lucelli am Waldrand und blickte in die grüne Dichte eines wilden Mischwaldes, dessen Unterholz von unzähligen Stauden, Sträuchern, Farnen und Gräsern überwachsen war. Und wie in einem Roman von Joseph Conrad schritten wir mit beherzten Schritten in diese Finsternis, die sich nach einer Weile in eine ruhige und von Insekten, Schmetterlingen und Vögeln beseelte Oase verwandelte und fanden innert zweier Stunden wunderbare Pfifferlinge, Steinpilze, Kräuterseitlinge, Waldchampignons und Totentrompeten. Mit anderen Worten die ganze Breite an Pilzen, wie man sie sonst nur auf guten Märkten bekommt.

Als wir dann zwei Stunden später in ihrer Küche standen und ich dabei zusah, wie sie die Pilze mit einem kleinen Küchenmesser und einer kleinen Pilzbürste reinigte, erzählte sie mir, was ihr Geheimnis war. Und wie so oft bei grossen Köchen, war das Geheimnis auch bei ihr nicht wirklich eines. Denn auf alles, wonach es Signora Lucelli beim Kochen mit Pilzen ankam, war die richtige Partnerwahl.

„Es ist wie bei uns Menschen, es sollte passen, aber dabei nicht zu harmonisch sein. Beide Partner sollten ein Eigenleben und ihre Freiheiten haben. Wenn ein Pilz einen starken Charakter hat, dann sollte man ihm auch mit Stärke begegnen, ohne ihn einzuengen. Zum Beispiel mit Liebstöckl, Dill, Schnittlauch, Beifuss oder im Frühjahr auch mit Brennesseln. Wenn ein Pilz zur Harmonie neigt, verhelfen Sie ihm zu mehr Persönlichkeit mit Petersilie, Kerbel oder Thymian. Und damit sich beide Charakter mit einander anfreunden können, nehmen Sie Zwiebeln, Mangoldblätter oder Spinat. Sie verstehen, was ich meine?“

Zwiebeln, Mangoldblätter oder Spinat als Paartherapeut? Nun gut, irgendwie war das zu verstehen.

Diese Frau hatte sich für das, was sie tat, eine eigene Weltanschauung geschaffen, die immer den Menschen in den Mittelpunkt stellte. Sie betrachtete das Kochen als eine Art Lebensphilosophie. Eat Pray Love auf Italienisch, nur auf Italienisch. Aber ihre Philosophie war so berückend einfach und einleuchtend, dass ich darüber erschrak. Nicht weil ich es nicht faszinierend fand, sondern weil ich daran zweifelte, ob ich diese Einfachheit den Lesern der New York Times auch schmackhaft und erklärbar machen konnte. Und als ob Signora Lucelli meine Gedanken gelesen hätte, fügte sie noch hinzu: „Glauben Sie mir, wenn man etwas begreifen möchte, dann ist es das Einfachste. Denn nichts scheint komplizierter zu sein. Dabei ist nicht das Einfache kompliziert, sondern die Eitelkeit, diese Einfachheit nicht zuzulassen.“

Donnerstag, 7. August 2014

Meine goldenen Zeiten



Als ich einmal ein Vogel war, segelte ich vor Hunderten von Jahren über eine kaum bevölkerte Welt. Die Wälder waren gross, die Nächte dunkel und der Fisch in den Meeren so zahlreich, dass man aus der Höhe, nebst den Wellen, auch eine ständige Bewegung verschiedener Fischschwärme beobachten konnte. Und wenn man ein kleines Hungergefühl verspürte, dann konnte man sozusagen blindlings ins Meer, in die Flüsse oder Bäche eintauchen und hatte mit Sicherheit einen köstlichen Fisch im Schnabel. Es war ein gutes Leben und ich liebte es sehr, meine Flügel in der Thermik auszubreiten und unter mir diese Farben des Wassers, der Wiesen, Wüsten und Wälder zu sehen, während die Sonne meinen Rücken wärmte.

Als ich ein paar hundert Jahre später einmal ein Wolf war, konnte unser Rudel einen mächtigen unberührten Wald seine Heimat nennen, das, ausgenommen vom harten Winter, mit keinen Widrigkeiten zu rechnen hatte. Wir verstanden uns mit den Bären in der Regel recht gut, wenn man sich bei der Beute nicht gerade in die Quere kam. Doch da es genug Wild hatte, dass es zu reissen gab, musste man als Wolf doch ein rechter Trottel sein, um diesen Tatzenviechern das Kitz oder die Hirschkuh streitig zu machen. Vor allem aber war es diese Weite, die, vom Ort des Sonnenaufganges bis zu jenem des Sonnenunterganges, alleine uns zu gehören schien.

Als ich wieder ein paar hundert Jahre später eine Katze am ägyptischen Hof war, die sich bei der Pharaonenfamilie einzuschmeicheln wusste und von allen gehätschelt wurde, stand mir ein ganzer Palast zur Verfügung, der von Mäusen und Käfern nur so wimmelte. Doch weil meine Besitzer dachten, sie müssten mich als Statussymbol wie einen Gott behandeln, wurde mir natürlich auch Fisch auf Tellerchen gereicht, der immer frisch zu sein hatte und den ein Vorkoster stets zu probieren hatte. Ich kann es ihm nicht verdenken, dass er mich deswegen nicht allzu sehr ins Herz schliessen mochte. Aber was sollte ich machen. Als Gottheit war mir das so ziemlich egal. Ich hatte ein gutes Leben. Sieben gute Leben.

Als es im Abendland dann dunkel und finster wurde, das Mittelalter und die Pest Einzug erhielt, entschloss ich mich, eine Kuh in Indien zu sein. Und auch wenn es sehr oft sehr heiss und staubig war, so führte ich doch ein Leben in gemächlicher Ruhe und hatte eigentlich nur die Tiger zu fürchten, wenn die sich nahe an die Dörfer wagten, um unsereins mit einem Biss in den Hals zu reissen. Aber ich hatte Glück. Und ich hatte ja die Wahl.

Denn seit Anbeginn der Zeit ist mir die Fähigkeit gegeben, mein Dasein zu wählen und zu bestimmen. Ich habe die Menschheitsgeschichte, den Aufstieg und den Niedergang von Völkern und Kulturen, das Aussterben der Dinosaurier (die Wahl, ein Hai zu sein, war doch wohl nicht so dumm zu jener Zeit), die Abholzung Europas, unendlich viele Kriege und Seuchen sowie viele andere unglaubliche Geschichten und Wendungen auf diesem Planeten als Zeuge miterlebt. Ich habe mich als Tier oder als Mensch durch die Jahrtausende bewegt und dabei immer darauf geachtet, dass ich dabei ein gutes Leben führen konnte. Ich war Kaiserin, Konkubine, Edelmann und Da Vinci. Ich war Hure, Napoleon, Rudolpho Valentino und Investment Banker. Und das alles nicht aus Ignoranz oder Selbstsüchtigkeit, sondern vielmehr aus der Einsicht heraus, dass letztlich sowohl das Gute wie auch das Schreckliche der Vergänglichkeit zum Opfer fallen. 

Aber offen gestanden, das einzig wirklich Gute, was in meinen bisherigen Leben Bestand hatte, war meine Verpflegungssituation. Denn da hielt ich es mit Brecht: Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Montag, 28. Juli 2014

Grimms Hunger



Ich wandelte im Jahre 1817 an einem Sommertag mit Jacob und Wilhelm Grimm auf einem gar hübschen Wege im Schatten grosser Linden, welche, sich immer zu zweien gegenüberstehend, einen Weg säumten und so eine Allee bildeten, und besprach mich dergestalt in Bewegung befindlich mit dem Brüderpaar über die kulinarischen Gepflogenheiten der verschiedenen Protagonisten, welche in den von ihnen niedergeschriebenen Kinder- und Hausmärchen so mancherlei Abenteuer zu erleben und bestehen hatten.

Da die beiden etwa 30-jährigen Herren meine Anfrage für ein solches Gespräch, welche ich nach der damaligen Sitte mit einem ausnehmend höflichen Brief per Kutsche und Postreiter zukommen liess, schon alleine des Inhalts wegen sehr kurios fanden, staunten sie nicht schlecht, als ein Elefant plötzlich vor ihrer Türe stand und ihnen mit einem süffisanten Lächeln unter dem Rüssel seine Ehrerbietung erwies und ihnen dabei unübersehbar zu verstehen gab, dass diese Gelegenheit nun tatsächlich gekommen war.

Doch da die Herren Grimm von ihren Märchen schon einige Abnormalitäten und Fantastereien gewohnt zu sein schienen, rungen diese sich nur ein knappes ‚hoppla’ ab, zogen sich ihre Kittel über und schritten frohgemut mit mir in die Landschaft hinaus, als wäre ich gerade so mal das Normalste, was sich im Deutschen Lande zu vier Füssen selbst fortzubewegen pflegte. Ja, das musste man diesen beiden Schreiberlingen lassen, so schnell liessen sie sich nichts mehr vormachen.

Als schon nach kurzer Zeit unseres Ausschreitens in Gottes Natur die etwas förmliche Kennenlernphase passé war, tauchten wir gemeinsam in die Tiefen des lukullischen Ozeans, welcher die Märchen durchaus anzubieten hatten und parlierten darüber, wie es denn mit der Genussfähigkeit besagter Agitatoren stehen mochte. Und wie es nicht anders zu erwarten war, tauchten aus dem Dunkel dieses wogenden Meeres unendlich viele Fragen auf.

Um was für einen Apfel mochte es sich handeln, den Schneewittchen von der Hexe überreicht bekam? Wie hätte ein Wolf, wenn er denn ein gelernter Koch gewesen wäre, Rotkäppchens Grossmutter für den lustvolleren Verzehr mariniert? Und was mochte das wohl für ein Kuchen gewesen sein, den Rotkäppchens Mutter gebacken hatte? Ob Rapunzel wohl mehr Haare in ihrer Suppe fand, als es bei gleichaltrigen Burgfrowen sonst der Fall war? Handelte es sich bei dem Käse, den das tapfere Schneiderlein in seiner Hand zusammendrückte um einen reifen Camembert oder eher um einen etwas kräftigen Hartkäse aus den Schweizer Bergen? Und welche Leckereien fanden sich tatsächlich auf dem Tischlein-deck-dich? Hatten die Märchen einen Störkoch, der jeweils für jede Geschichte aufs Neue seine Fantasie walten liess?

Die Gebrüder Grimm, von der Fülle meiner Fragen sehr amüsiert und nicht weniger erstaunt, begannen zuerst mit grosser Gewissen- und Ernsthaftigkeit meine Fragen zu beantworten und wollten deren Beantwortung so manche wissenschaftliche These angedeihen lassen. Doch da sie sich dabei selbst auf recht abenteuerliche Weise in eigenwilligen Theorien zu verstricken drohten und ob dem Thema sehr schnell einen Hungerast verspürten, beschloss man gemeinsam ein gerade ins Blickfeld geratene Gaststätte heimzusuchen, um nicht mehr über diese Sache reden zu müssen, sondern darüber essen zu können. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass man mich als Elefanten von dieser Strategie und Vorgehensweise nicht lange zu überzeugen brauchte.

Donnerstag, 17. Juli 2014

Sommerloch



Ein Elefant liest die Zeitung und es vergeht ihm der Hunger.

Die Affenbrotbäume überstehen jede Dürre, während die hiesigen Hirnmassen des Homo sapiens, welche eigentlich über genügend Fett und feuchte Masse verfügen müssten, allmählich ausgetrocknetem Zwieback ähneln, die, von der Dummheit der Menschen wohl sträflich der heissen Sonne ausgesetzt, so mürbe geworden sind, dass deren Durchblutung nicht mehr gewährleistet zu sein scheint. Allerorten werden die Besitzstände nicht nur mit Kollateralschaden aufs Ekelerregendste verteidigt, sondern man entdeckt auch neue Geschäftsfelder auf Kosten von vielen Menschen, die dem Goodwill von ein paar wenigen Möchtegerndiktatoren und Geierhaien ausgesetzt sind und für deren Bereicherung sie dann eine saftige Zeche zu bezahlen haben.

Wie sich das liest? Voilà: Die Kriege im Nahen und Mittleren Osten, im Sudan und an der Börse mit Hedge Funds machen nicht nur wegen ihrer Brutalität, sondern auch wegen ihrer Perfidie sprachlos. Die schamlos offengelegte Gier, welche Lobbyisten überall zu den kühnsten Vorschlägen bei hiesigen Politikern bewegt, lässt nur staunen und kopfschütteln. Und die vielen Studien und Expertisen über die Befindlichkeiten der modernen Gesellschaft, welche einfach das offen legen, was schon offensichtlich ist – nämlich dass wir es irgendwie miteinander nicht gebacken kriegen –, bestätigen uns nicht in unserer Fähigkeit, richtig zu reflektieren, sondern viel mehr darin, nichts daraus zu lernen. Und dann wäre da noch diese wiederentdeckte Religiosität, welche in allen Kulturkreisen keine Nächstenliebe, sondern viel mehr Nächstenhass, Ignoranz und Menschenfeindlichkeit predigt. Sei es, wenn es darum geht, andere Kulturen, andere Lebensformen und andere Verhaltensnormen zu torpedieren, zu verbieten oder einfach in den Dreck zu ziehen. Oder wenn die mangelnde Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszudenken, plötzlich zum einzigen gemeinsamen Nenner geworden ist, bei dem ein jeder dem anderen die Schuld in die Schuhe schieben kann.

Ein Elefant liest die Zeitung und es vergeht ihm der Hunger. Nicht wegen allen anderen, sondern auch wegen sich selbst. Das ist kein Black- oder Burn-out, sondern einfach einmal so eine Laune, die er als im Glück geborener Säuger wohl morgen schon wieder vergessen haben wird. Mit ein bisschen schlechtem Gewissen, ein paar unbedeutenden Aufregungen und null persönlichen Konsequenzen.

Ein Elefant liest die Zeitung. Und macht nichts, als ein bisschen darüber zu schreiben und den Rüssel in die Höhe zu halten, weil er glaubt, die Gedanken würden dadurch etwas grösser und erhabener werden. Doch das Einzige, was am Ende wohl mit absoluter Sicherheit geschehen wird, ist, dass der Hunger zurückkommen und die Aufregung vergessen wird. Ein Elefant hat also tatsächlich nur eine Maus geboren.

Mittwoch, 9. Juli 2014

Floras Befreiung



Nachdem Flora Escobal ihren Mann endlich umgebracht hatte, weil sich die Auswirkungen seiner Schläge auf ihrem Gesicht irgendwie nicht mehr vor anderen verstecken liessen, überkam sie ein grosser Hunger.

Und nachdem sie ihn zuerst in der Badewanne ausbluten liess, ihn dann in sechs kleinere Stücke teilte und diese an sechs verschiedenen Orten vergrub, pflanzte sie auf jede der Grabstellen viele kleine Bischofsmützen, Kakteen, welche hübsche gelbe Blüten trugen und sie stets daran erinnerten, was für ein hübscher Kerl ihr Mann doch gewesen war. Doch mit den Jahren verwandelten die Schläge sein schönes Gesicht in eine angstmachende und brutale Fratze, so dass der Schlag mit der Schaufel in diese hübsche Fresse ihres Mannes der guten Flora irgendwie ganz leicht viel. Und nachdem er zuerst einmal einen guten Teil seiner makellosen Zähne ausgespuckt hatte und erschrocken ins Gesicht seiner Frau sah, da war es schon zu spät, um auf die Spitzhacke zu reagieren, die sich gerade mit unglaublicher Wucht in seine Schädeldecke bohrte, wobei er noch das Knacken der brechenden Schädeldecke zu hören glaubte, bevor sich für ihn dann der wunderbar blaue Himmel über Mexiko für immer verdunkelte.

Doch Flora sass jetzt zufrieden in ihrer Küche und teilte mit geschickten und erstaunlich ruhigen Händen ein paar grosse Chilischoten, welche sie dann über der Gasflamme des Herdes zu rösten gedachte. Dazu wollte sie einen Reis mit Rosinen kochen, den sie dann mit lauwarmem Pulpo und fein aufgeschnittener Chorizo servierte. Mit anderen Worten, sie bereitete gerade ein für ihre Verhältnisse doch sehr üppiges Mahl vor, welches man vielleicht an einem Sonntag, aber doch nicht einfach an einem einfachen Dienstag zubereiten mochte. Aber da sie ja ihren Mann endlich los geworden war und dazu ihre vier besten Freundinnen zum Nachtessen geladen hatte, schien ihr der Aufwand mehr als gerechtfertigt. Ja, heute war ihr grosser Tag.

Als drei Stunden später die fünf Freundinnen gemütlich um den Küchentisch in der türkisfarben gestrichenen Küche sassen und an einem Glas Weisswein nippten, räusperte sich Flora und ergriff feierlich das Wort. Auf die unschuldigste und herzlichste Weise, die man sich vorstellen kann, eröffnete sie ihren Freundinnen, dass die Einladung kein Zufall war, sondern dass man etwas zu feiern hatte. Und um ihre Gäste nicht noch lange auf die Folter zu spannen, sprach sie die Worte mit einem grossen Strahlen im Gesicht endlich aus und gestand ihnen, dass Carlos Ruiz Escobal für immer gegangen ist. Und zwar nicht einfach weg, sondern zum lieben Herrgott.


Anna, Maria, Laura und Paola, ihre vier besten Freundinnen sassen ganz plötzlich wie versteinert auf ihren Stühlen und blickten Flora mit erschrockenen Augen an. Da wollte Maria wissen, wie sie das denn genau meine? Was war mit Carlos passiert? War ihm etwas zugestossen? Und wann sei das denn geschehen? Und ob sich Flora auch sicher sei, dass ihr Mann nicht einfach für ein paar Tage irgendwohin verreist war?

Als Flora sah, dass ihre Nachricht ihre vier besten Freundinnen weit mehr verstört hatte, als sie es – sie wusste genau, warum das so war – tatsächlich erwartet hatte, blickte sie etwas traurig, aber sehr sanftmütig, in ihre Gesichter und sagte dann beinahe zärtlich: „Ach seid nicht traurig wegen Carlos. Ich wusste schon lange, dass ihr mich als seine Frau zwischen den Laken abgelöst hattet. Doch, doch. Ich wusste es. Denn Carlos hatte die Angewohnheit, im Schlaf zu sprechen und dabei die Wahrheit zu erzählen. Aber ich verzeihe euch. Ich verzeihe euch jetzt. Und ihr könnt euch sicher sein, dass Carlos nicht lange alleine bleiben wird. Ihr hättet einfach nicht das zweite Mal von der Chorizo probieren dürfen.“

Freitag, 4. Juli 2014

Ausserirdische Vitamine



Wir schreiben das Jahr 2567 nach Christus und befinden uns auf dem Jupitertrabanten Lysithea, der vor etwa 240 Jahren als Ferienmond für die Menschen kultiviert, umgebaut, anklimatisiert und aufs Verschwenderischste mit Wellness-Oasen ausgestattet wurde. Maxro2p5 und seine Frau Nim1k37 haben sich gerade in einem Galaxiencafé an ein Tischchen gesetzt und blicken auf den Sojagas-Screen, der vor ihnen aus dem Nichts erschienen ist und ihnen die Speisekarte präsentiert. Beide, noch ganz groggy von der Venussteinmassage, beginnen plötzlich zu strahlen, weil sie ihren Lieblingssnack entdeckt haben: Hortensiensalat mit einem Essiggürkchen.

Wir wünschen beiden „recht än Guete“.

Mittwoch, 2. Juli 2014

Was macht der Gigi von Arosa eigentlich im Sommer?



Er ist der viel besungene Skilehrer, der allen Frauen seit Jahrzehnten den Kopf verdreht. Ob Pulver, Sulz oder eisig: er lotst die weiblichen Herzen die Hänge der Fantasien hinunter, grinst sein strahlend weisses Lachen und ist stets so braungebrannt wie ein Prättigauer Maiensäss. Ach der Gigi, was für ein Herzensbrecher, was für ein Mann!

Es war kürzlich in Portofino, als ich vor Anker ging und vom Schiff aus, ganz zufällig, einen etwas älteren dicken Mann sah, der in seinen Sandalen, den beigen Leinenhosen und einem weissen leichten Baumwollhemd – das fast bis zum Bauchnabel geöffnet war, um das ebenfalls weiss gewordene Brusthaar zu präsentieren – wie ein Grosspapi, mit zwei Bechern Eis in der Hand, der Mole entlang ging und einen davon dann einem etwas jüngeren Mann in die Hand drückte, welcher seinerseits gespielt lässig mit übergeschlagenen Beinen auf einem Mäuerchen sass und die Yachten und Boote betrachtete, die hier für einen ständiges Kommen und Gehen sorgten.

Als mein guter Freund Peter, selbst ein Bündner aus Arosa, mir ins Beiboot half, das uns an den Steg bringen sollte, machte dieser plötzlich einen Juchzer und rief so laut es ging: „Gigi! Hey Gigi!“ Da nicht nur ich, sondern auch der ältere dicke Mann mit dem Eis in der Hand aufgeschreckt wurde, begann Peter laut zu lachen und winkte diesem mit dem ganzen Arm zu, während er wie ein Murmeli pfiff, um den Blick von Gigi auf sich zu lenken. Als dieser Peter endlich orten konnte und ihn dann auch sofort erkannte, verwandelte sich sein erschrocken erstauntes Gesicht zu einem breiten Grinsen und er winkte uns zu, um uns zu bedeuten, dass wir zu ihnen kommen sollten. Peter legte seine Hand auf meine Schultern und sagte mir lächelnd: „Jetzt lernst du eine Legende kennen. Das da ist der Gigi von Arosa. Und das daneben ist sein Partner Klaus. Genau, sein Lebenspartner.“

Am Land angekommen und das Beiboot vertäut, watschelten wir der Mole entlang zu diesem Männerpaar, das es sich an einem kleinen Cafétischchen gemütlich gemacht und bereits zwei weitere Stühle für uns organisiert hatte. Mit Umarmungen, Händeschütteln, Schulterklopfen und kleinen Lachern begrüsste man sich ausführlich und versicherte sich gegenseitig, was das doch für eine erfreuliche Überraschung sei, bevor man sich dann an das kleine Tischchen setzte. Und da sich die drei anderen offensichtlich schon bestens zu kennen schienen, war es an mir, einmal etwas zurückzustehen und dem Gespräch, den Anekdoten und Floskeln zu lauschen und hin und wieder der Gesellschaft ein Lächeln des Verständnisses und der stillen Teilnahme zu schenken.

Während die Geschichten der Freunde sich auf den neusten Bündner Klatsch beschränkten, blickte ich, die Augen hinter der Sonnenbrille versteckt, auf die beiden Eisbecher, in welchen noch kleine pastellfarbene Reste schwammen. Als Gigi das bemerkte, sagte er mir, dass ich unbedingt auch ein Eis dort hinten an der Ecke holen müsse. Es sei einfach köstlich. Und wenn er mir eine Empfehlung abgeben dürfe, dann würde er mir doch raten, mich für das Pistazien-Eis zu entscheiden. Denn das sei hier absolut einzigartig. Er selbst könne keinen Sommer darauf verzichten.

Und auch wenn ich für mich dachte, dass die Kernkompetenzen von Gigi wohl eher im Winter angesiedelt sein dürften, entschied ich mich dennoch für den Gang zur Gelateria. Schliesslich hatte man ja den Gigi auch stets als Frauenheld besungen. So falsch konnte eine Empfehlung von ihm im Sommer auch nicht sein.

Montag, 30. Juni 2014

Viel Bla-bla um Allerlei vom Säuli



Wenn man in einem Chor die Stimme des ersten Tenors singt – welcher vielleicht in einem Requiem, einem einfachen Lied oder in einem Choral die Hauptmelodie zu singen hat –, während der zweite Tenor, ein Alt oder vielleicht auch ein Bass unterstützend eine harmonische Begleitung dazu singt, dann kann man als Sänger die Qualität dieser Mehrstimmigkeit körperlich erfahren. Nicht nur, weil der Körper als eigener Resonanzkörper das seine dazu beiträgt, sondern weil das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Stimmen, welche gemeinsam über Notenlinien mäandernd durch eine neue Welt schlendern, uns in der Seele tief berührt. Es ist diese Kombination, die, absolut folgerichtig und dennoch überraschend überwältigend, uns bezaubert und uns verführt. Ob als vollkommene Harmonie oder in perfekter Dissonanz, ob schwermütig mit satten Streichern und Bläsern in Moll oder mit einem witzigen Pizzicato auf einer Violine begleitet; der Gesamteindruck hat stets etwas Überirdisches. Und man ist als Sänger immer ein Teil davon.

So. Und jetzt hat sich der Elefant vor lauter selbstgefälliger Wortschrauberei gerade ein bisschen in der Analogienwüste verloren und hofft, aus diesem bildungsbürgerlichen Exkurs nochmals entrinnen zu können. Und zwar ohne einfach die Delete-Taste zu drücken.

Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wie bei mehrstimmigem Gesang kann man in manchen Restaurants seit einiger Zeit den variantenreichen Genuss auch auf dem Teller geniessen. Das heisst dann Zweierlei, Dreierlei oder Allerlei vom Kalb. Oder vom Freilandsäuli. Oder von Frehners Rindli Hilda aus dem Säuliamt. Es ist das Versprechen, dass man vom jeweiligen Tier nicht nur das Eine (Filet, Koteletts, Leber usw.), sondern eben auch noch das Andere auf dem Teller serviert bekommt. Und das, wenn gut gekocht, meistens in einer harmonischen Variation, welche durch Kochkunst ebenso zu begeistern vermag wie ein Streichquartett von Brahms...oder ein Forellenquintett...oder ein Quodlibet verschiedener Lieder. Es ist ein genussvoller Reigen, der uns zeigt, dass man mit ganz einfachen Mitteln für weniger Langeweile auf dem Teller sorgen kann.

Etwa so, wie wenn man hier mit genau 2389 Zeichen (inkl. Leerzeichen) auf einfachste Art ganz umständlich zu beschreiben versucht, dass man auf dem Gupf in Rehetobel, im Schlüssel in Zürich oder im Chesa Salis in Bever schon saugute Allerleis serviert bekommen hat.

Donnerstag, 26. Juni 2014

George hat Hunger



Nach dem George am 24. August 1940 seine beiden Eltern in einem Vorort von London durch das Bombardement der Deutschen verloren hatte, war er auf einen Schlag Vollwaise geworden und hatte niemanden mehr auf der Welt, auf deren verwandtschaftlichen Bande er zählen konnte. Als Junge von 9 Jahren war das nicht eine sehr erfreuliche Option für die Zukunft, was ihm aber nur allzu bewusst war, hatte er doch schon oft von seinem Vater gehört, wie es Waisen ergangen war, die ihre Eltern im 1. Weltkrieg oder an der Spanischen Grippe von 1918 verloren hatten. Nein, die Aussichten schienen wahrlich alles andere als rosig zu sein.

Als George 24 Stunden nach dem letzten Donnergrollen endlich über seine toten Eltern aus den Trümmern ihres Häuschens ans Licht trat, fand er inmitten der zerbombten Strasse einen neuen, unversehrten Bleistift mit gold-schwarzen Streifen vor ihm liegen. Er hob diesen auf und betrachtete ihn lange, als ob er noch nie in seinem Leben einen Bleistift gesehen hatte. Doch da alles andere um ihn herum dem Erdboden gleichgemacht war, schien für ihn dieses kleine unbeschädigte Ding tatsächlich etwas Besonderes zu sein. Etwas, das sein Leben für immer verändern sollte. Etwas, worauf er bauen konnte. Und etwas, das ihn die gegenwärtige Tragödie seines Lebens auf irgendeine Weise überwinden half.

Da er, wie viele andere auch, in diesen Tagen oft an Hunger litt, war das erste, das er mit dem Stift auf einen ebenfalls gefundenen kleinen Zettel malte, ein kleines Brötchen. Das Zeichnen und die damit einhergehende Konzentration liessen ihn den Hunger vergessen. Aber es offenbarte sich auch, dass er über zeichnerisches Talent verfügte und Gegenstände so abzubilden verstand, dass sie beinahe so echt und wirklichkeitsnah wie auf einer Fotografie anzusehen waren. Und als George sich dieser Fähigkeit bewusst wurde, schwor er sich, dass er mit diesem Bleistift nur noch Essen zeichnen wollte, bis von diesem nur noch ein kleiner Stummel übrig bleiben würde. Und er wusste auch, dass genau das vielleicht die Möglichkeit war, dem Tod der Eltern und seinem Leben einen Sinn zu geben. Denn Essen bedeutete, nicht zu verhungern.

Als George zwölf Jahre später seine Ausbildung als Wissenschaftlicher Zeichner abschloss, drang sein Ruf schon weit über das Land hinaus. Über den Kanal auf den Kontinent und sogar über den Atlantik bis in die Vereinigten Staaten, von wo er immer wieder Anfragen erhielt, Essen für Bücher, Lehrmittel, Plakate und vieles mehr zu illustrieren.

Und so kam es, dass er in kürzester Zeit zu einem der bekanntesten Illustratoren wurde, den seine Hingabe für das Essen berühmt und reich werden liess. Und bei jeder noch so kleinen Beere und jeder noch so einfachen Erbse, die er mit grosser Liebe aufs Papier brachte, war er sich stets im Klaren darüber, dass es nicht nur um sein Talent ging, sondern vor allem auch um sein Versprechen, diesem Bleistift, der mittlerweile durch viele andere ersetzt worden war, die Bedeutung zukommen zu lassen, die er verdient hatte. Und das bedeutete nichts anderes, als fürs Überleben und gegen das Leid zu kämpfen.

Freitag, 20. Juni 2014

Akiras Träume



Tanzende Monde, fliegende Rehe und Margeriten, die sich wie Windräder am blauen Himmel drehen und wie Schmetterlinge durch den Kosmos flattern. Das ist nicht das Wunderland, in dem Alice ihre Abenteuer erlebt. Und es ist auch nicht das Reich des Zauberers von Oz, wo Dorothy ihre rot funkelnden Schuhe spazieren führt. Nein, ich sitze in der vordersten Reihe einer Show der Londoner Fashion Week und lasse mich, zusammen mit vielen bekannten Gesichtern aus der Modebranche, gerade von der luftigen Sommer-Kollektion eines mit mir gut befreundeten japanischen Designers verzaubern.

Sein Name ist Akira und er ist ein Träumer und ein Phantast. Aber er lebt seine Träume, verwandelt sie in atemberaubende Kleider und schuftet Tag und Nacht, um aus ihnen unvergessliche Bilder zu schaffen. Er hatte immer schon das grosse Glück, sein Talent, seine Intuition und seinen Willen derart zu fokussieren, dass er selber seiner Kreativität niemals einen Stolperstein in den Weg legte, indem er den Versuchungen der Modeindustrie, mit ihren aberwitzigen Honorarversprechungen, erlag. Er lebt dabei nicht nur scheinbar in den Tag hinein, sondern macht tatsächlich immer gerade das, was im einfällt und Spass bereitet. So ist es im Grunde genommen immer ein Ereignis, wenn er an einer Fashion Week präsent ist, da er sich vom Diktat der Zeit und des stetigen Wechsels in keiner Weise beeindrucken lässt und erst dann an die Öffentlichkeit gelangt, wenn er und seine Kreationen bereit dafür sind. Und diese sind jedes Mal ein Ereignis.

Akira ist witzig, feinsinnig und – wie es wohl Robert Walser ausdrücken würde – von grosser Zartheit. Und es war auch die Liebe zu Robert Walser, die ihn und mich zu Freunden gemacht hat. Vor Jahren schon strandeten wir beide zur gleichen Zeit auf einer Insel in der Ägäis und hielten, ein jeder für sich, ein Buch dieses wundervollen Schriftstellers in der Hand. Konnte das ein Zufall sein? Akira, damals noch ein Kunststudent, der auf elterliche Kosten die Schönheiten Europas entdeckte. Ich, ein bereits erfolgreicher Journalist, der bereits innerlich an seinen Berufsvorstellungen gestrandet war und der bereit war, sein Leben von Grund auf zu ändern. Beide standen wir damals am Pier und schauten der Fähre nach, die uns zum griechischen Festland hätte bringen sollen, die wir aber gerade verpasst hatten und die uns dazu zwang, noch einen Tag auf dieser Insel zu bleiben. Und das mit Robert Walser in den Händen. Es gibt weiss Gott schlimmere Umstände, eine Freundschaft fürs Leben zu beginnen.

Mittlerweile, zwanzig Jahre später, ist aus unserer skurrilen Begegnung eine starke Bindung geworden. Wir haben in der Zwischenzeit beide ein neues Leben aufgebaut, uns teilweise neu erfunden und erfreuen uns beide einem gewissen Grad von Unabhängigkeit. Und wann auch immer ich in London bin, wo Akira heute lebt und arbeitet, lädt er mich zu einem Nachtessen zu dritt ein. Mich und Robert Walser. Dabei ist es keineswegs so, als dass wir ständig über Walser sprechen würden. Das haben wir in den ersten Jahren unserer Freundschaft zu genüge und mit grosser Leidenschaft schon getan. Heute aber sitzen wir jeweils am Tisch, geniessen Akiras Kochkunst und spazieren in unseren Gesprächen über die Felder und Hügel, wie das der Schweizer Schriftsteller in seinem späteren Leben tatsächlich beinahe täglich gemacht hat.

Als ich gestern wieder bei ihm zu Gast sein durfte, obwohl heute die grosse Show anstand, tischte Akira mir einen wunderbaren Zuke-Don auf. Würfel von rohem Lachs, Thuna und Makrele mit einer Marinade aus Sake, Zucker und Sojasauce sowie eingelegten Algen und frischen Frühlingszwiebeln. Das alles in einer kleinen Schüssel mit Sushi-Reis, ein paar Sesamsamen und einem luftigen Wasabi-Schaum angerichtet. Und wie alles, was Akira selbst machte, war auch dieser Eintopf ein poetisches Bild. Schlicht, zart und dennoch farbenfroh wie ein Feuerwerk. Oder wie eine Zeile von Robert Walser, wenn er die Schönheiten des Lebens in seiner bezaubernden Sprache ganz einfach beschreibt.

Mittwoch, 18. Juni 2014

Trogener Requiem



Ich bin in einem Museum aufgewachsen. Die Häuser, welche den grossen Dorfplatz mit seiner Barockkirche umringen, stammen fast alle aus dem mittleren 18. Jahrhundert und waren einst Wohnsitz einer Familie, die sich mit dem Tuchhandel in ganz Europa einen Namen gemacht hat. Doch auch das, was hinter diesen Häusern zum erweiterten Dorf zählt, ist Zeuge einer Architekturgeschichte, die dem Gestern mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt als dem Heute.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen. Aber in einem sehr lebendigen. Denn als ich ein Kind war, da fand man noch verschiedene Bäckereien vor, die eine jede für sich ihre Spezialitäten anbot. Es gab auch mehrere Metzgereien, zwei Lebensmittelgeschäfte, eine Gärtnerei, einen Getränkehandel, eine Drogerie sowie noch ein paar andere kleine Läden, die den täglichen Bedarf für die hiesige Bevölkerung aufs Beste zu befriedigen vermochten. Mit anderen Worten, ich wuchs in einem kleinen Kosmos auf, der diesem musealen Dorf mit seinen pittoresken Bauten Leben einhauchte und in dem immer eine quirlige Atmosphäre vorherrschte.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen, das die Bilder meiner Kindheit mit Düften, Gerüchen, Geschmäckern und Materialien angereichert und mein Empfindungsgedächtnis für immer geprägt hat. Da ist der Geruch der Pantli und Mostbröckli im Rauchkamin der elterlichen Metzgerei. Da ist der leicht bittere Geschmack dunkler Schokolade an den Enden des Schoggikreuzes der Bäckerei Willi. Die luftige Vanillecrème einer Charlotte Russe der Conditorei Ruckstuhl. Der Duft von sonnenverbrannten Schindeln Appenzeller Häuser und Stallwänden. Die kühl milchig riechende Luft des Lieferwagens, mit dem Köbi Blättler seine Milchprodukte nach Hause geliefert hat. Das dampfende Steinpflaster, wenn ein Gewitter einem heissen Sommertag Abkühlung gebracht hatte. Der cremig-rezente Geschmack eines Käsefladens in der Landmark. Das Blütenfest der Linden. Die feuchte Luft in den Wäldern voller Farne. Geschnittenes Gras. Und Heu. Immer wieder dieser unvergleichliche Duft von Heu.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen und habe dieses kürzlich wieder besucht. Keine Menschen auf der Strasse. Keine Läden mehr. Keine Gerüche, die Erinnerungen gebracht hätten. Und auch kein Leben. Nur Fassaden, Geschichte, Beschaulichkeit und ein Erschrecken darüber, dass das einmal das Dorf gewesen sein soll, das meine ganze Lust geweckt, meine Sehnsüchte geprägt und meine Liebe bekommen hatte.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen und bin ihm entkommen. Ein Ort, der kein Heimweh mehr aufkommen lässt und mich mit der Tatsache versöhnt hat, dass man nicht alles, was man hinter sich lässt, auch innerlich verlassen hat. Denn die Erinnerungen leben noch und sind nach wie vor ein Teil von mir. Sie sind es, die mich auf meinem Weg weitergebracht haben. Sie sind der Nährstoff dessen, was mich als volles Leben in der Welt erwartet hat. Sie sind Kraft, Dinge immer wieder frisch und neu zu sehen, als wäre ich ein Kind, das einfach auf seiner Entdeckungsreise noch nicht zu Hause angekommen ist.

Samstag, 14. Juni 2014

Schweizer Idylle



Über dem Thurgauer Seerücken hat der heutige Junitag viel Sonne und hohe Temperaturen gebracht und bietet drei Rotmilanen am Himmel eine klare Sicht auf Wiesen und Felder, Obstplantagen und Gemüseäcker. Und während wir schwitzend in die Pedalen steigen, ziehen die grössten aller hiesigen Greifvögel anmutig ihre Kreise, ziellos und doch bestimmt, lassen den Aufwind in ihren Federn das seine dazu beitragen und schweben majestätisch in der von blühenden Linden geschwängerten Luft, während wir vor Begeisterung über dieses Spektakel fast in einen Graben fahren.

Endlich am Bommer Weiher angelangt, entschliessen wir uns, eine kleine Pause einzulegen, die Fahrräder auf der Seite, wie blecherne Ponys, stehen zu lassen und die Picknickdecke auf der Wiese auszubreiten. Es ist die Gelegenheit, das mit Rohmilch-Butter bestrichene und mit gekochten Schinken belegte Zopfbrot – und zwar nicht nur ein, zwei Scheiben – aus der Folie zu wickeln und dann diesen behäbigen Genuss mit diesem Ausblick und diesem Augenblick zu teilen. Noch etwas ausser Atem, aber durchaus sehr glücklich und stolz und überschwänglich, nehmen wir noch einen Schluck Hahnenwasser aus der Thermosflasche, seufzen seelig und sinken schliesslich hinunter auf die Decke, um das Lichtspiel in den Blättern auf dem Rücken liegend zu beobachten.

Kristallern schimmern die Funken der Sonnenstrahlen hinein in das Blattwerk dieses Zauberwaldes, aus dem die geräuschvolle Stille von Abermillionen Insekten, Amphibien und Kleingetieren zu hören ist. Hier hat sich also auch das Paradies hingelegt. Hier wird alles sofort vergessen, was noch vor ein paar Stunden stumpfer Alltag war. Hier kann man verweilen...und vielleicht auch gleich noch das zweite Zopfbrot seiner Vergangenheit zuführen. Doch diesmal mit Fleischkäse.

Donnerstag, 12. Juni 2014

100 Elefanten



Seit einem Jahr sind sie unterwegs, die Elefanten. Über alle Meere, durch die Jahrhunderte und auf allen Kontinenten wurden sie gesehen, haben einen Halt gemacht, wunderbare Dinge gekostet und danach eine Geschichte nach Hause gebracht.

Was treibt sie an, diese Dickhäuter mit dem feinen Rüssel? Was macht sie zu leidenschaftlichen Geschichtenerzählern? Und warum immer wieder über und um das Kulinarische herum Geschichten erfinden?

Lust. Pure Lust.

Denn nirgendwo sonst, kann man so einfach mit allen lebenden, schon gestorbenen und vielleicht noch nicht geborenen Herrschern verschiedenster Königshäuser parlieren. Auch das Zusammentreffen mit Filmstars, Starmusikern und Operndiven wäre wahrscheinlich anderswo etwas schwieriger zu bewerkstelligen. Aber mit den Elefanten ist sogar ein Interview mit einem Zwetschgenbaum möglich, die Auseinandersetzung mit politischen Randgruppen sowie ein geistiges Elefantenrennen mit anderen Grössen der grossen Küche. Ein Elefant kann einfach alles. Sogar ein Selfie mit wem er immer möchte.

Hier, mit dem hunderdsten Post meines Blogs, möchte ich mich ganz herzlich bei meinen Lesern bedanken. Für ihre Nachsicht, ihre Ausdauer und ihre Treue. Also euch. Wenn ihr immer noch dazu gehört, dann habt ihr es nicht besser verdient. Aber das habt ihr sehr gut gemacht.

Elefant à la crème freut sich jetzt schon auf weitere Exkursionen, Abenteuer und Fantastereien. Und wohin die Reise als nächstes auch immer gehen wird, der Elefant wird wohl nicht nur euch damit überraschen, sondern auch sich selbst.

Vielen herzlichen Dank.

Dienstag, 10. Juni 2014

Hafencranus culinaricum



Wenn man in diesen ersten heissen Sommertagen mit einem Becher Sauerrahmglacé der Limmat entlang spaziert, kann es passieren, dass man plötzlich von einer grossen mechanischen Giraffe namens ‚Hafenkran’ beäugt wird. Eisern und stolz steht sie da, wie sie mit einem Geiferfaden, der aus dem Maul in die Tiefe taucht, einem beim Auslöffeln des Glacébechers beobachtet, ohne aber auch nur mit der Wimper zu zucken. Was für eine Disziplin!

Und auch wenn die besten Tage der Giraffe offensichtlich schon hinter ihr liegen mögen, so kann man ihr eine gewisse Eleganz durchaus nicht absprechen. Denn wer sonst würde dieses dumme Gerede über seine Daseinsberechtigung so stoisch und mit Würde ertragen?

Da ich mich als Elefant der Giraffe allein schon der Herkunft wegen seelisch verbunden fühle, bleibe ich noch etwas vor ihr stehen und kratze die letzten Reste meiner süssen Schleckerei aus dem Becher. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die letzten schon schmelzenden Reste gerne die Nähe zu meinem Bauch suchen, um als Flecken weiter das Licht der Sonne zu beeindrucken. Da kommt mir das interessierte Stehenbleiben gerade richtig.

Nachdem ich also das Sauerrahmglacé vernichtend in die Flucht geschlagen habe, fällt mir prompt wieder ein, dass ein leicht rechtsgesteuertes Komitee eine Initiative vors Volk bringen möchte, welche in Zukunft die Platzierung von eisernen Giraffen in Zürich verbieten möchte. Haben die so eine Angst vor den Giraffen, die Affen?

Da ich ja als Elefant ein enormes Gedächtnis habe, will mir in diesem Zusammenhang prompt ein Zitat einfallen, das unlängst ein Freund von mir geäussert hat: „Meinungsfreiheit wäre ja wirklich etwas Erstrebenswertes, wenn es die SVP nicht gäbe. Und da ich in der Schule mal gelernt habe, dass sich das menschliche Hirn vor allem durch die Einnahme von Eiweiss so weit entwickeln konnte, muss ich davon ausgehen, dass sich die besagte Partei offensichtlich schon seit Längerem für die vegane Lebensweise entschieden haben muss.“

Und schon stelle mir vor, wie diese Trottel gerade ein Sauersojaglacé fressen. Abartig, so was. Einfach abartig.

Mittwoch, 4. Juni 2014

Proteine

Hey, ich bin ein Gangster. Ich schiesse alle tot. Ich zeige kein Erbarmen. Und jeder Auftrag wird schnell und sauber erledigt. Rata-tata-tam! Eine Ladung Schnaps nach Downtown? Kein Problem, so lange die Kohle stimmt. Zwei Flittchen oder einen kleinen Stricher aufs Hotelzimmer? Gib mir die Kröten und du kannst so lange auf ihnen rumhüpfen, wie du willst. Ich bin ein Gangster, durch und durch. Ohne Skrupel, ohne falsche Bescheidenheit und mit dem Mut eines Löwen. Rooooooaaaawwww! Und sollte es jemanden in den Sinn kommen, mich zu bescheissen, dann warten die Betonfüsse nicht lange auf ihn und er kann sich die Fische im Hafenbecken von der ersten Reihe aus ansehen. Hast du das kapiert? Und natürlich trag ich immer einen weissen Anzug, meinen dünnen Lippenbart und die Narben im Gesicht. Ich bin das gefundene Fressen für jeden Krimi-Autor. Und der Albtraum eines jeden Cops. Genau, ich bin der Bullenschreck schlechthin. Ohne mich hätte die Polizei hier in Chicago das reinste Ferienlager. Aber ich sorg schon dafür, dass genau das nicht passieren wird. Denn ich bin ein Gangster. Und mein Job ist es, Angst und Schrecken zu verbreiten. Ich kenne weder Gnade noch Mitleid. Und wenn mir eine Trulla auf die Nerven geht, dann tausch ich sie ein. Ich lass mich nicht von blonden Locken und scharfen Kurven tyrannisieren. Und gräbt mir einmal eine ihre rot lackierten Fingernägel aus einem falschen Grund in den Rücken, dann kann sie Gott dafür danken, wenn ich sie nicht sofort erledige, sondern noch ein Weilchen für mich anschaffen lasse. Hast du das kapiert? Klar hast du das, ist ja auch nicht so schwierig, oder? Und dann noch was...hey, was zeigst du denn mit dem Finger auf mich? Hat dir Johnny nicht gesagt, dass man nie mit dem Finger auf mich zeigen soll? Hat er das nicht? Was? Ein gelber Fleck? Wo? Scheisse Mann, wie kommt denn der da drauf? Der Anzug hat mich glatte 300 Dollar gekostet und jetzt ist er ruiniert. Scheisse, Scheisse, Scheisse nochmal. Wenn ich den Kerl erwische, dann mach ich ihn kurz und klein. Ich schneid ihm die Kehle durch oder lass ihn im Säurebad strampeln. Was? Habe ich das richtig gehört? Der Kerl war ich? Weisst du denn überhaupt, was du damit gerade sagst? Weisst du, dass du mich gerade wie ein vollkommener Trottel dastehen lässt, der sein Frühstück-Ei nicht anständig essen kann? Möchtest du das tatsächlich damit ausdrücken? Komm, sag schon. Zeig, dass du Eier in den Hosen hast und wiederhol, dass ich nicht fähig oder Manns genug bin, ein Frühstücks-Ei zu essen. Sag es! Hab ich es mir doch gedacht. Du hast den Schiss in der Hose. Auch du bist nur einer von diesen kleinen Hosenscheissern, die sich nicht getrauen, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen und dafür zu sterben. Was ist das doch für ein erbärmliches Leben, das du führst. Bist nicht einmal bereit, für deine Prinzipien zu sterben. Geh mir aus den Augen! Ich ertrag deinen Anblick nicht mehr. Und ich möchte verdammt noch mal mein Frühstücks-Ei in Ruhe zu Ende essen.

Montag, 2. Juni 2014

Ein einfacher Sonntag auf dem Land



Als ich an einem regnerischen Sonntag ins innerrhodische Gonten zu einem Mittagessen eingeladen wurde, sprach nur sehr wenig dafür, dass ich an diesem Tag eine meiner kulinarischen Sternstunden erleben würde. Ein Freund wollte mich seinen Eltern vorstellen, die über Jahrzehnte ein Restaurant geführt und über die Region hinaus bekannt gemacht hatten. Da er wusste, dass ich gutes Essen zu schätzen weiss, fand er es nur angebracht, dass ich einmal deren Bekanntschaft und zugleich die Erfahrung mit ihrer Küche machen sollte. Ausserdem fand er es wohl an der Zeit, dass seine Eltern auch mal einen Elefanten bei sich in der guten Stube willkommen heissen könnten. Auch das eine Erfahrung, die man ja nicht jeden Tag macht.

Nachdem ich der Mutter meines Freundes einen Gelben Frauenschuh als Gastgeschenk überreicht und ihr damit eine unglaubliche und nicht erwartete Freude bereitet hatte, sassen wir zu viert an einem schön gedeckten Tisch in einer typischen Appenzeller Stube und tauschten freundliche Nettigkeiten aus. Dann schlich sich die Mutter, die schon in den Siebzigern war, in die Küche, um die Vorspeise vorzubereiten, während der Vater sich in den Keller begab. Draussen vor dem Fenster sahen wir die Nebelschwaden um den Kronberg tänzeln, während das Licht des trüben Tages das ansonsten so satte Grün der Wiesen beinahe blas erscheinen liess.

Doch sogleich wurde dieses fade Grün von dem leuchtenden Grün eines Kopfsalates abgelöst, der schlicht zubereitet vor mir auf den Tisch gestellt wurde. Ein Auftakt ohne Feuerwerk. Aber dennoch ein wunderbar eleganter Auftakt, weil eine Salatsauce meistens einfach eine Salatsauce ist und nur ganz selten eine Offenbarung. Dieser grüne Kopfsalat aber war wirklich eine Offenbarung.

Während die Mutter wieder in die Küche ging, kam der Vater mit einem freudigen Schmunzeln in die Stube und stellte eine Flasche Rotwein auf den Tisch... Stopp! Noch einmal.

Also: als die Mutter in die Küche ging, kam der Vater mit einem Schmunzeln in die Stube und stellte eine Flasche Château Pétrus auf den Tisch.

Glauben Sie mir, Elefäntchen hat noch selten in seinem Leben so grosse Augen gemacht und dümmlich aus der Wäsche geschaut. Wo war ich denn hier gelandet? In einem Traum? Im Schlaraffenland? Nein, es war immer noch Gonten, das da ganz unspektakulär vor den Fenstern lag. Und in diesem kleinen innerrhodischen Krachen, wo man eher einen sauren Most erwartet, stand plötzlich dieser Wein da.

In einer Fernsehserie wäre das der beste Cliffhanger, um eine Woche auf die nächste Folge der Geschichte zu warten. Doch kaum war der Wein auch in unseren Gläsern, kam die Mutter mit einem herrlichen Lammcurry mit Äpfeln und Kartoffelstock hereingeschlurft. Richtig, ein Lammcurry mit einem Bordeaux, für den Weinkenner ihre gesamte Familie verkaufen würden. Was für eine Kombination. Fantastisch. Fan-tas-tisch.

Aber damit nicht genug. Nachdem die Mutter sich dahingehend äusserte, Elefäntchen wäre beim Curry noch bereit für einen Nachschlag, entschied sich der Vater, dass dies ebenso für den Wein gelten mochte. Wie bitte? Noch eine Flasche Wein nach dem Pétrus? Das war einfach unmöglich. Denn eine zweite Flasche desselben Weines wäre einfach nur absurd gewesen. Damit durfte ich also nicht rechnen. Und ein anderer Wein würde wohl dieses Erlebnis unwürdig zur Ironie verkommen lassen. Doch da ich Gast war, behielt ich meine Bedenken für mich und dachte, dass dieser grossartige Augenblick eben einfach nur ein kleiner Glücksmoment bleiben würde.

Doch dieser Gedanke wurde gleich aufs Erstaunlichste widerlegt. Denn die nächste Flasche, die der alte Mann ganz nebensächlich auf den Tisch stellte, war ein Château Latour mit Jahrgang 1982. Das war nicht irgendein Jahrgang, sondern einer der besten überhaupt. Ich war fassungslos. Was passierte hier gerade? Konnte es sein, dass ich tatsächlich zwei Spitzenweine an einem normalen Sonntag auf dem Lande trinken würde? Konnte das wirklich sein? Offenbar konnte es das.

Wenn mich heute jemand fragt, wie denn für mich so ein einfacher Sonntag idealerweise aussieht, muss ich immer schmunzeln, mit dem Rüssel zärtlich über meine Lippen fahren und an diesen Sonntag denken. Genau so muss ein einfacher Sonntag aussehen. Selbst, wenn ich als Ausserrhödler dafür nach Innerrhoden gehen muss.

Montag, 26. Mai 2014

Wunderlich tapst der Küchenchef im Mai



Im wunderschönen Mai wandelten wir unter den Linden, welche auch dieses Jahr wieder vor ihrer Zeit in voller Blütenpracht standen und bereits diesen unvergleichlichen Duft durch die Strassen trugen. Es war ein Abend voller Erwartungen und in meinem Innern klang die helle und sehnsuchtsvolle Stimme von Fritz Wunderlich, der diesen Monat in Schumanns Dichterliebe mit der wohl schönsten Tenorstimme aller Zeiten besang. Mit anderen Worten, der richtige Soundtrack, um einen Abend in der Kronenhalle zu verbringen, wo mein Freund und ich unser soeben zurückgelegtes verflixte siebte Jahr verabschieden wollten.

Wenn man in die Welt der Kronenhalle eintaucht, befindet man sich unweigerlich in einer anderen Zeit, die noch analog funktioniert. Die Kellner und Serviertöchter (ja, ich nenne sie noch so!) erinnern mich immer an die Zeiten, die ich selber nicht erlebt habe, aber die ich von unzähligen Bildern und Filmdokumenten her zu kennen glaube. Dürrenmatt und Frisch in angeregter Diskussion; Paul Nizon aus Paris zu Besuch in der Zwinglistadt bei einem Glas Rotwein; Ces Keiser und Margrit Läubli nach einer ihrer unzähligen Vorstellungen im Hechtplatztheater bei einem kleinen Nachtessen...die Liste ist schier unendlich. Es ist eine Welt, die man sich irgendwie zurückwünscht, auch wenn man weiss, dass diese Zeit kein bisschen besser war. Nichtsdestotrotz bietet sie Gelegenheit zu kleinen Fluchten, verträumten Vorstellungen und idealisierten Erlebnissen.

Doch wir hatten jetzt unser siebtes Jahr überstanden und wollten das feiern. So sassen wir an unserem Tisch und blickten in diesen prächtigen Raum. Da der Abend dazu angetan war, klassisch daherzukommen, bestellten wir ganz klassisch Blinis mit Rauchlachs als Vorspeise, ein Chateaubriand als Hauptgang und als süssen Abschluss eine Mousse au chocolat, für welche die Kronenhalle berühmt ist. Dazu tranken wir eine wunderbare Flasche Pommard und genügend Mineralwasser, um nicht vor lauter Weinseligkeit gleich noch Tränen in die Augen zu bekommen. Das Klassische als Klischee.

Während wir uns an dem wirklich sehr guten und sehr klassischen Chateaubriand labten, tapste der Küchenchef zwischen den Tischen umher, als hätte er die Orientierung verloren und wäre auf der Suche nach einem Gast, der schon lange nicht mehr aufgetaucht war. Die Rolle als Gastgeber war ihm offenbar abhanden gekommen, weil ihm das Jetzt einen Streich gespielt hatte. Denn er blieb augenscheinlich glücklos auf der Suche nach der verlorenen Zeit und schien ziellos wie ein alter Eisbär, gefangen im Zoo, im Gehege hin und her zu gehen. Ein bedauernswerter Zustand, wenn man ihm nicht entrinnen kann, die Vergangenheit zu gross geworden scheint und man mit dem, was noch kommen mag, keinen Frieden schliessen kann.

Bestimmt hätte Fritz Wunderlich, wenn er nicht viel zu früh gestorben wäre, bei diesem Mann noch ein Lächeln auf das Gesicht zaubern können. Hätte mit seiner Ode an den Mai und den damit verbundenen Wünschen und Sehnsüchten der Rastlosigkeit und dem Verlorensein ein Ende gesetzt. Aber dafür war es jetzt zu spät. Denn nicht jeder Mai macht alles neu.

Samstag, 24. Mai 2014

Curry-Hund? Ja gibt’s denn so was?!



Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wird. So sagt man. Nun, das habe ich mir stets zu Herzen genommen und darum immer versucht, die Contenance zu wahren, wenn es um die Gebräuche anderer Kulturen ging. Denn, wenn man sich im tiefsten Himalaya bewegt und vom gewohnten Umfeld so weit weg ist wie nur irgend möglich, sollte man auf Dinge vorbereitet sein, die vielleicht eben doch so heiss gegessen werden, wie sie gekocht wurden.

So erging es mir auch im Jahre 1936 irgendwo in Nepal, als ich Zeuge wurde, wie man Curry-Hunde zubereitet. Und ich schwöre, es hat mich einige Überwindung gekostet, diese Prozedur in ihrer Gänze mitanzusehen. Trotzdem war ich Forscher genug, um diese mir durchaus etwas widerwärtig anmutende Zubereitung zu dokumentieren und in ihren Einzelheiten in meinem Sachbuch ‚Kulinarische Gepflogenheiten im Schosse Buddhas’ wiederzugeben. In Anbetracht dessen, dass im kultivierten Europa der damaligen Zeit gerade viel barbarischere Dinge vonstatten gingen, stellte sich mir dannzumal auch nicht die Frage nach der Ethik dieses Tuns. Und wenn wir wirklich ehrlich sind, dann stellt sie sich in diesem speziellen Fall auch heute noch nicht. Aber lassen wir das.

Also. Man nehme einen oder mehrere ausgehungerte Hunde und füttere diese mit einem Reisbrei, der mit einem ausserordentlich scharfen Curry angereichert ist. Nachdem sich die Hunde reichlich mit dem Reis versorgt haben, führe man sie an einen Brunnen und lässt sie trinken. Viel trinken. Dann keult man die Hunde, zieht ihnen das Fell ab und legt sie in ein feuchtes Lehmloch, das von aussen ständig befeuert wird. Nach etwa zwölf Stunden sollten die Hunde gar sein. Durch das lange Garen entfaltet sich die Würze des sich im Inneren der Hunde befindliche Curry dergestalt, so dass das ganze Fleisch einen feinen Currygeschmack erhält. Und statt dass man, wie etwa hierzulande, nur die besten Stücke isst, wird der Curry-Hund im Himalaya bis auf die Knochen weggeputzt.

Sie sehen, liebe Leser, wenn Sie jetzt auch einen leichten Schauder verspüren mögen, so kommt man eben nicht darum herum, andere Bräuche als das hinzunehmen, was sie sind. Eine neue Erfahrung.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Ästhetische Betrachtungen eines Speisefisches über den Tod



Da lag er nun auf dem Eis und hatte sein Leben ausgehaucht, nachdem er heute Morgen noch im lichtdurchfluteten Meer seine Runden gedreht hatte. Er war sich bewusst, dass er wohl eines Tages den Fischern ins Netz gehen würde, war bereit, damit zu leben und hatte keineswegs Angst vor dem Tod. Es war ein Schicksal, das vor ihm schon andere erfahren hatten und das auch nach ihm noch andere erfahren würden. Und war es nicht der Tod, der dem Leben erst den Sinn gab?

Trotzdem, Rudolf stellte sich diese Fragen, weil er fand, dass man diese Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit einem intellektuellen Fischleben schuldet. Alles, was recht war, aber soviel Hirnschmalz musste einfach sein. Und als aufgeklärter Fisch wog deshalb auch nicht die Tatsache so schwer, dass man irgendwann mal als Nahrungsmittel auf einem Teller landen würde, sondern viel mehr die Frage ‚wie’ man dahin gelangen würde.

Und hier eröffnete sich für Rudolf ein grösseres Problemfeld, das er selber nicht zu beeinflussen vermochte. Denn wie er schon von anderen Fischen mit Nahtoderfahrung – die wohl nur auf sonderbare Weise wieder im Meer gelandet waren – gehört hatte, war es üblich, dass die Fische nach erfolgreichem Verkauf in Zeitungspapier gewickelt wurden, um so dann vom Käufer nach Hause getragen zu werden.

Zeitungspapier! Man stelle sich das mal vor! Sollte es jetzt also tatsächlich soweit kommen, dass er jetzt, wo er tot war, in Zeitungspapier gewickelt wurde? Und wenn ja, in welchen Teil der Zeitung? Vermischte Meldungen oder Wirtschaft? Den Sportteil, der ihn überhaupt nicht interessierte? Stellen- oder Todesanzeigen? Mein Gott, dachte der tote Rudolf, wenn ich es doch wenigstens ins Feuilleton schaffen würde.

Dienstag, 20. Mai 2014

Wenn Domenico malt



Was erleben wir, wenn wir in Museen gehen und uns der Kunst aussetzen? Betrachten wir die Bilder mit innerer Bewegtheit? Betrachten wir uns selbst beim Betrachten mit dem Stolz des Bildungsbürgers? Betrachten wir die Jahre oder gar die Jahrhunderte, die seit der Entstehung der Bilder vergangen sind? Betrachten wir die Geschichte oder das Konzept, die hinter einem Bild stecken? Oder betrachten wir einfach nur die anderen Besucher beim Betrachten der Bilder und fragen uns, was das Betrachten bei ihnen auslösen mag? Was erleben wir, wenn wir uns an einen Ort bewegen, wo ein jeder ein Kenner, ein Amateur oder ein Hochstapler sein kann?

Domenico fragte sich solche Dinge unentwegt. Als Beobachter, der seine voyeuristischen Seiten schon sehr früh entdeckt hatte, war er darauf konditioniert, alles, was um ihn herum geschah, wahrzunehmen und zu analysieren. Das geschah keineswegs mit der berechnenden Nüchternheit eines Kommissars oder eines Meisterdetektivs, um eine lösungsorientierte Situationsanalyse vorzunehmen. Sondern es geschah vor allem aus Empathie für die um ihn herumstehenden Menschen, die er mit kindlicher Neugier beobachtete, als seien diese putzige Koalas, die irgendwie hilflos, aber doch zufrieden in Eucalyptusbäumen hingen und darauf warteten, bis etwas passierte.

Kunst ist in dieser Hinsicht ja sehr dankbar. Denn irgendwie kann ein jeder seine Meinung dazu haben, ohne dass man diese zu teilen braucht. Im Gegenteil: je kontroverser ein Gemälde oder eine Skulptur besprochen werden, detso mehr Spass macht es. Hier wird die Auseinandersetzung und das Konträre zum verbindenden Element, mit dem man sich in einer selbstgefälligen Wohlfühlzone einnisten kann. Kunst ist ein Tummelplatz, um die eigenen Weltanschauungen als Trittbrettfahrer auf eine höhere Bedeutungsebene zu bugsieren, indem man sich mit einem Werk, einem Künstler, einer Stilrichtung oder einer Denkart solidarisiert. Man muss den Menschen dafür einfach etwas bieten. Und genau das war das Rezept von Domenico.

Als er vor sieben Jahren sein kleines Restaurant eröffnet hatte, war ihm daran gelegen, dass seine Gerichte eine Geschichte erzählten. Ein Menü bestand nicht einfach aus Vorspeise, Hauptspeise und Dessert, sondern war ein in sich stimmiges Triptychon. Darin spiegelte sich ein Thema, eine Epoche, eine Region oder ein Gefühl. Ein Gefühl? Ja, genau das. Denn Domenico war nicht einfach ein selbsternannter Künstler, sondern ein wahrhaftiger, der mit seiner Küche ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte. Er konnte auch zu Tränen rühren oder seine Gäste sprichwörtlich den Atem anhalten lassen, weil seine Kompositionen die Menschen staunen liess. 

Und wenn dann der Meister selbst aus der Küche in die Gaststube trat, konnte er sehen, dass seine Gäste genau das in seiner Kochkunst sahen, was sie vielleicht auch in den Bildern in den Museen zu sehen vermochten: Das Schaffen neuer Emotionen, das Sprengen von Grenzen, das Erkunden von neuen Territorien, das Zulassen von neuen Gedanken. Vielleicht etwas pathetisch, aber trotzdem nicht weniger war. Und mit frischen Morcheln sogar richtig fein.

Mittwoch, 14. Mai 2014

Ich wilder Kaiser



Vor dem Bauernhaus sitze ich und betrachte den Wilden Kaiser, der tatsächlich herrschaftlich über die liebliche Landschaft wacht. Das Heu ist schon eingebracht und die Luft ist voller Düfte, aufgewärmt von der sommerlichen Sonne, dem Schwitzen auf dem Fahrrad und diesem allzu kurzen, aber sehr erfreulichen Stelldichein mit Liesl, an der Stallwand, gleich hinter dem Holderbusch, an der Rückseite des Hauses, die sich als erstes im Schatten des herannahenden Abends vor dem Tag versteckt.

Bereits zirpen die Grillen, die Bienen tanzen noch über den Blumen, Mücken wirbeln im Schwarm in einem Kreis umher und das Grasen der Kühe auf der nahen Wiese wird von einem Bimmeln der Glocken begleitet, welche ihre kräftigen Hälse zu Boden zu zwingen scheinen.

Schon beglückt von dieser Ruhe und noch erregt von der kleinen Liebelei, atme ich wie ein Radrennfahrer mit hämmerndem Puls auf der Holzbank, am Holztisch, vor der Holzwand, neben der Holzbeige und spüre das Blut, welches durch meine Adern gepumpt wird, als besässe ich in meinem Innersten ein kleines Wasserkraftwerk. Dieses innere Aufgewühltsein, die soeben erlebte Erregung und das erlösende Zusammenfallen aller Spannung, begleitet von ein paar Zuckungen und leisen Schreien, kontrastiert mit dieser friedlichen Stimmung nur vermeintlich. Aber in Wahrheit vermischen sich diese Erlebnisse und Gefühle zu einem harmonisch gemalten Tableau, das noch kaum trocken, in leuchtenden Farben strahlt und mich mit allem versöhnt, was in den letzten Tagen an Aufregung und Unbill zusammengekommen ist.

So sitze ich in meinen noch ausgebeulten Lederhosen vor dem Haus, schmecke den Apfelmost auf der Zunge und rieche den süssen Schweiss von Liesl, während sie mir eine Schüssel mit frisch geschnittenem Blattsalat vorsetzt, der mit verschiedensten Blumen gemischt ist und den sie mir mit Schwarzbrot und einem Stück Speck reicht. An einem solchen Abend, das weiss ich jetzt, ist alles möglich. Da kann alles kommen und alles passieren. Selbst, wenn ich mich dafür an die Liesl binden müsst. Heute bin ich der Kaiser.

Montag, 12. Mai 2014

1953



Eine Frühlingsnacht in Rom. Irgendwo sitzen Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einer Vespa und sie fahren über Strassen, wo zweitausend Jahre zuvor Julius Cäsar einer Verschwörung zum Opfer fiel.

In einer Wohnung nahe dem Quirinal sitzt Federico Fellini mit seiner Frau Giulietta Masina auf einem Sofa und geht mit ihr das Drehbuch zu ‚La Strada’ durch. Sie wird im Film mit Anthony Quinn zusammen die Hauptrolle spielen und Federico wird dafür einen Meilenstein in der Filmgeschichte setzen und den Oscar erhalten.

In einem kleinen Café sitzt die junge Maria Luisa Ceciarelli, die soeben die Accademia Nazionale d’Arte Drammatica abgeschlossen hat und als Monica Vitti in den Sechzigerjahren grosse Erfolge in Filmen von Michelangelo Antonioni feiern wird.

Im Hotel Ritz liebt Montgomery Clift gerade einen namenlosen jungen Italiener, den er während den Dreharbeiten zu ‚Roma, stazione Termini’ am Set kennengelernt hat. An die Nacht wird er sich noch lange und gerne erinnern, den Film hingegen wird er später als grossen dicken Fehler bezeichnen, weil der amerikanische Produzent die Originalfassung von Vittorio de Sica ruinös gekürzt haben wird.

In einem anderen Zimmer im Hotel Ritz sitzt gerade Wilhelm Furtwängler mit einem Glas Wasser über einer Partitur von Wagners Rheingold, die mit Anmerkungen übersät ist. Im Spätherbst wird er hier den ganzen Ring einspielen. Zum letzten Mal, bevor er dann ein Jahr später stirbt und für viele als grösster Dirigent aller Zeiten in die Geschichte eingehen wird.

Eine Frühlingsnacht in Rom. Ich sitze mit Giacomo und seiner Verlobten Maria vor einem Restaurant in einer Seitengasse in unmittelbarer Nähe des Pantheons. Wir essen gerade kleine frittierte Artischocken mit Sardellen, etwas Lamm und Kutteln nach römischer Art mit Weissbrot. Während Giacomo mir erzählt, was er und seine zukünftige Frau für eine Hochzeitsreise planen, blicke ich hinauf in die Sternen und lausche dem Lärm der Stadt. Alles, an was ich denke, ist diese Frühlingsnacht in Rom und die Nachricht von Herrn Dr. Koller, einem Anwalt aus Zürich, der mir vor etwa zwei Stunden per Telegramm mitteilen liess, dass meine Tante Klara gestorben sei und ich somit über ein beträchtliches Vermögen sowie eine einzigartige Kunstsammlung verfügen würde.

Als Giacomo endlich eine Pause macht und sich ein Stück Kutteln in den Mund schiebt, blicke ich die beiden an und frage sie, ob ich sie zur Hochzeit nach Paris einladen darf. Während mein Freund sich ob der Frage gerade verschluckt und einen Hustenanfall bekommt, schaut mich Maria entsetzt an. Dann fragen beide wie aus einem Mund, was denn mit mir los sei, ob ich über Nacht zum Millionär geworden sei?

Ja, das war ich tatsächlich.

Mittwoch, 7. Mai 2014

Ach, ach. Woldemar hat ein Faible für Spaghetti



Was tut man doch den Vögeln gemeinhin für ein Unrecht an, wenn man ihnen die Fähigkeiten hochstehenden Genusses abspricht. Sie denunziatorisch einfach nur Schnabulierer nennt und sie als zu spät geborene Mini-Dinosaurier der Lüfte bezeichnet.

Was? Sie haben noch nie davon gehört, dass man das tut? Wirklich nicht? Also, ihre Ohren möchte ich ja auch nicht haben. Wie dem auch sei, so sei es eben. Schliesslich schreibe ich ja hier die Geschichten.

Auf Sylt lebte also im 19. Jahrhundert ein weitgeflogener Flamingo namens Woldemar, der in seinen jugendlichen Sturm- und Drangjahren den Winter oft und gerne in Bella Italia verbrachte, wo er mit ein paar Pfauen an der Promenade von Portofino herumstolzierte und sich abends, wenn die Sonne gerade über...das war dann wohl nicht Capri...versank, in einem kleinen netten Restaurant einen Teller Spaghetti neri mit Krabben, Tintenfischen und Krevetten ass.

Und das war’s dann auch schon.

Mittwoch, 30. April 2014

Verbeugung vor einem Klassiker



Sie stand mit zu Boden gerichtetem Haupt auf der Bühne, blickte konzentriert auf ihre Schuhspitzen, die unter dem langen weissen Rüschenkleid hervorlugten, und badete im tosenden Applaus, der von allen Rängen wie eine atlantische Riesenwelle über sie hereinbrach. Sarah Bernhardt war gerade effektvoll und sehr dramatisch als Kameliendame an Schwindsucht gestorben und hatte wieder einmal ganz Paris gezeigt, was Schauspielkunst war. Wie Sprache, Geste, Mimik, Emotionen und perfektes Timing als darstellende Kunst zelebriert werden mussten. Und wie man eine Tragödie zu gestalten hatte, so dass den Zuschauern der Atem wie gefrorener Nebel in der Brust erstarrte.

Langsam hob sie ihren Kopf, genoss dabei jeden Zentimeter, jedes visuelle Fragment, das während der Bewegung in ihr Blickfeld geriet, und sah, dass die Menschen sie wieder einmal frenetisch feierten. Es war wie beim ersten Mal. Es war immer wie beim ersten Mal. Madame Bernhardt war die grösste Schauspielerin ihrer Zeit und jede Vorstellung glich einer Premiere, in der Theaterbesucher neues Land entdeckten und in neue Sphären stiegen. Diese Diva war wie ein Engel, der in die Höhe des künstlerischen Firmaments stieg, um dort mit ausgestrecktem Arm schon jetzt ins neue Jahrhundert zu zeigen, das in 3 Jahren beginnen sollte, und das für so viele Hoffnungen ein Versprechen verbarg. Zweifelsohne war die Bernhardt ein leuchtender Stern.

Und während all diese Lobeshymnen wie Zeitungsschlagzeilen vor ihrem inneren Auge auftauchten, die sie mit mehr als nur Genugtuung zur Kenntnis nahm, hörte sie plötzlich ein leises, und in diesem Lärm frenetischen Applauses kaum wahrnehmbares Grollen. Was konnte das sein? Ein herannahendes Gewitter? Eine Kutsche, deren Pferde durchgebrannt waren? Eine Kanonade?

Nein, es war nichts von all dem. Es war das Knurren ihres Magens, der sich nun entspannt hatte und sich bemerkbar machte. Es war ein lustvolles Hungergefühl, das der Konzentration und der Anspannung gewichen war. Es war die Lust, nach der Arbeit etwas zu sich zu nehmen, das auf seine Weise ihrer eigenen Kunst gerecht sein würde. Doch was konnte das sein? Gänseleber? Hummer? Austern? Champagner?

Oh nein, nichts dergleichen. Es war viel mehr eine kleine süsse Versuchung, die mit schlichter Souveränität einen grossen Auftritt bewältigen konnte. Es war ein Stück Millefeuille. Eine kleine Patisserie, die mit knusprigem Blätterteig, einer herrlich luftigen Vanillecrème und feinstem Zuckerguss alle Register zu ziehen vermochte, ohne dabei auf übertriebene Effekte zurückgreifen zu müssen. Es war schlichtes Können, das in sich stimmig war und dennoch begeisterte. Es war die Weglassung alles Unnötigen. Es war wie eine Zeile von Victor Hugo. Schlicht, klug, eindrucksvoll und einzigartig. Es war wie sie, die grosse Sarah Bernhardt. Ein Klassiker, den man immer wieder zu Gemüte führen wollte.

Montag, 28. April 2014

Der alte Fisch und das Meer



Herculano Pedro Javier da Silva war ein stolzer Schwertfisch, der schon lange in den Meeren lebte und in der Vergangenheit nur allzu oft mitansehen musste, wie seine Freunde und Familien Opfer menschlicher Gefrässigkeit geworden waren. Und auch wenn schon sein Vater, Eduardo Julio Alexandre da Silva, ihn bereits als jungen Fisch darüber aufklärte, dass sie einst ihr Leben einer höheren Sache opfern müssten, dünkte es ihn doch nicht recht, dass diese höhere Sache der nimmersatte Mensch sein würde. Da interessierte es ihn auch nicht, ob diese seine gefischten Freunde in feinstem Olivenöl angebraten oder am offenen Feuer grilliert hatten. Ob sie Aurelia, Cristiano oder Juanita danach von Hand oder auf edelstem Silber verspeist hatten. Oder ob man zu ihnen Kartoffeln oder Reis geboten hatte. Was für ihn zählte, war der Verlust, die Trauer und der Schmerz gewesen.

Da Herculano langsam selber lebenssatt geworden war und die Einsamkeit ihn schwermütig gemacht hatte, beschloss er eines Tages, nochmals all seine Kräfte zu sammeln und sich in selbstmörderischer Absicht wie ein Pfeil aus dem Wasser zu katapultieren, um einen Sportfischer, der gerade seinem blutrünstigen Hobby nachging, auf seiner Yacht zu durchbohren. Denn, wenn einem nichts mehr blieb, so war doch die Rache immer noch die beste aller schlechten Alternativen.