Donnerstag, 26. Juni 2014

George hat Hunger



Nach dem George am 24. August 1940 seine beiden Eltern in einem Vorort von London durch das Bombardement der Deutschen verloren hatte, war er auf einen Schlag Vollwaise geworden und hatte niemanden mehr auf der Welt, auf deren verwandtschaftlichen Bande er zählen konnte. Als Junge von 9 Jahren war das nicht eine sehr erfreuliche Option für die Zukunft, was ihm aber nur allzu bewusst war, hatte er doch schon oft von seinem Vater gehört, wie es Waisen ergangen war, die ihre Eltern im 1. Weltkrieg oder an der Spanischen Grippe von 1918 verloren hatten. Nein, die Aussichten schienen wahrlich alles andere als rosig zu sein.

Als George 24 Stunden nach dem letzten Donnergrollen endlich über seine toten Eltern aus den Trümmern ihres Häuschens ans Licht trat, fand er inmitten der zerbombten Strasse einen neuen, unversehrten Bleistift mit gold-schwarzen Streifen vor ihm liegen. Er hob diesen auf und betrachtete ihn lange, als ob er noch nie in seinem Leben einen Bleistift gesehen hatte. Doch da alles andere um ihn herum dem Erdboden gleichgemacht war, schien für ihn dieses kleine unbeschädigte Ding tatsächlich etwas Besonderes zu sein. Etwas, das sein Leben für immer verändern sollte. Etwas, worauf er bauen konnte. Und etwas, das ihn die gegenwärtige Tragödie seines Lebens auf irgendeine Weise überwinden half.

Da er, wie viele andere auch, in diesen Tagen oft an Hunger litt, war das erste, das er mit dem Stift auf einen ebenfalls gefundenen kleinen Zettel malte, ein kleines Brötchen. Das Zeichnen und die damit einhergehende Konzentration liessen ihn den Hunger vergessen. Aber es offenbarte sich auch, dass er über zeichnerisches Talent verfügte und Gegenstände so abzubilden verstand, dass sie beinahe so echt und wirklichkeitsnah wie auf einer Fotografie anzusehen waren. Und als George sich dieser Fähigkeit bewusst wurde, schwor er sich, dass er mit diesem Bleistift nur noch Essen zeichnen wollte, bis von diesem nur noch ein kleiner Stummel übrig bleiben würde. Und er wusste auch, dass genau das vielleicht die Möglichkeit war, dem Tod der Eltern und seinem Leben einen Sinn zu geben. Denn Essen bedeutete, nicht zu verhungern.

Als George zwölf Jahre später seine Ausbildung als Wissenschaftlicher Zeichner abschloss, drang sein Ruf schon weit über das Land hinaus. Über den Kanal auf den Kontinent und sogar über den Atlantik bis in die Vereinigten Staaten, von wo er immer wieder Anfragen erhielt, Essen für Bücher, Lehrmittel, Plakate und vieles mehr zu illustrieren.

Und so kam es, dass er in kürzester Zeit zu einem der bekanntesten Illustratoren wurde, den seine Hingabe für das Essen berühmt und reich werden liess. Und bei jeder noch so kleinen Beere und jeder noch so einfachen Erbse, die er mit grosser Liebe aufs Papier brachte, war er sich stets im Klaren darüber, dass es nicht nur um sein Talent ging, sondern vor allem auch um sein Versprechen, diesem Bleistift, der mittlerweile durch viele andere ersetzt worden war, die Bedeutung zukommen zu lassen, die er verdient hatte. Und das bedeutete nichts anderes, als fürs Überleben und gegen das Leid zu kämpfen.

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