Mittwoch, 18. Juni 2014

Trogener Requiem



Ich bin in einem Museum aufgewachsen. Die Häuser, welche den grossen Dorfplatz mit seiner Barockkirche umringen, stammen fast alle aus dem mittleren 18. Jahrhundert und waren einst Wohnsitz einer Familie, die sich mit dem Tuchhandel in ganz Europa einen Namen gemacht hat. Doch auch das, was hinter diesen Häusern zum erweiterten Dorf zählt, ist Zeuge einer Architekturgeschichte, die dem Gestern mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt als dem Heute.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen. Aber in einem sehr lebendigen. Denn als ich ein Kind war, da fand man noch verschiedene Bäckereien vor, die eine jede für sich ihre Spezialitäten anbot. Es gab auch mehrere Metzgereien, zwei Lebensmittelgeschäfte, eine Gärtnerei, einen Getränkehandel, eine Drogerie sowie noch ein paar andere kleine Läden, die den täglichen Bedarf für die hiesige Bevölkerung aufs Beste zu befriedigen vermochten. Mit anderen Worten, ich wuchs in einem kleinen Kosmos auf, der diesem musealen Dorf mit seinen pittoresken Bauten Leben einhauchte und in dem immer eine quirlige Atmosphäre vorherrschte.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen, das die Bilder meiner Kindheit mit Düften, Gerüchen, Geschmäckern und Materialien angereichert und mein Empfindungsgedächtnis für immer geprägt hat. Da ist der Geruch der Pantli und Mostbröckli im Rauchkamin der elterlichen Metzgerei. Da ist der leicht bittere Geschmack dunkler Schokolade an den Enden des Schoggikreuzes der Bäckerei Willi. Die luftige Vanillecrème einer Charlotte Russe der Conditorei Ruckstuhl. Der Duft von sonnenverbrannten Schindeln Appenzeller Häuser und Stallwänden. Die kühl milchig riechende Luft des Lieferwagens, mit dem Köbi Blättler seine Milchprodukte nach Hause geliefert hat. Das dampfende Steinpflaster, wenn ein Gewitter einem heissen Sommertag Abkühlung gebracht hatte. Der cremig-rezente Geschmack eines Käsefladens in der Landmark. Das Blütenfest der Linden. Die feuchte Luft in den Wäldern voller Farne. Geschnittenes Gras. Und Heu. Immer wieder dieser unvergleichliche Duft von Heu.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen und habe dieses kürzlich wieder besucht. Keine Menschen auf der Strasse. Keine Läden mehr. Keine Gerüche, die Erinnerungen gebracht hätten. Und auch kein Leben. Nur Fassaden, Geschichte, Beschaulichkeit und ein Erschrecken darüber, dass das einmal das Dorf gewesen sein soll, das meine ganze Lust geweckt, meine Sehnsüchte geprägt und meine Liebe bekommen hatte.

Ich bin in einem Museum aufgewachsen und bin ihm entkommen. Ein Ort, der kein Heimweh mehr aufkommen lässt und mich mit der Tatsache versöhnt hat, dass man nicht alles, was man hinter sich lässt, auch innerlich verlassen hat. Denn die Erinnerungen leben noch und sind nach wie vor ein Teil von mir. Sie sind es, die mich auf meinem Weg weitergebracht haben. Sie sind der Nährstoff dessen, was mich als volles Leben in der Welt erwartet hat. Sie sind Kraft, Dinge immer wieder frisch und neu zu sehen, als wäre ich ein Kind, das einfach auf seiner Entdeckungsreise noch nicht zu Hause angekommen ist.

1 Kommentar:

  1. Oder halt der Bienenstich vom Willi und die Quarktorte, welche im Ruckstuhl genau so verschwunden ist wie die Spitzenschürzen hinter dem Verkaufstresen, ersetzt durch die vermeintliche Appenzellerspezialität „Schlorzifladen“ seviert in Crocs. Es gibt vieles was ich aus Trogen vermisse, aber eben nicht Trogen. Danke für den Text.

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