Donnerstag, 22. Mai 2014

Ästhetische Betrachtungen eines Speisefisches über den Tod



Da lag er nun auf dem Eis und hatte sein Leben ausgehaucht, nachdem er heute Morgen noch im lichtdurchfluteten Meer seine Runden gedreht hatte. Er war sich bewusst, dass er wohl eines Tages den Fischern ins Netz gehen würde, war bereit, damit zu leben und hatte keineswegs Angst vor dem Tod. Es war ein Schicksal, das vor ihm schon andere erfahren hatten und das auch nach ihm noch andere erfahren würden. Und war es nicht der Tod, der dem Leben erst den Sinn gab?

Trotzdem, Rudolf stellte sich diese Fragen, weil er fand, dass man diese Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit einem intellektuellen Fischleben schuldet. Alles, was recht war, aber soviel Hirnschmalz musste einfach sein. Und als aufgeklärter Fisch wog deshalb auch nicht die Tatsache so schwer, dass man irgendwann mal als Nahrungsmittel auf einem Teller landen würde, sondern viel mehr die Frage ‚wie’ man dahin gelangen würde.

Und hier eröffnete sich für Rudolf ein grösseres Problemfeld, das er selber nicht zu beeinflussen vermochte. Denn wie er schon von anderen Fischen mit Nahtoderfahrung – die wohl nur auf sonderbare Weise wieder im Meer gelandet waren – gehört hatte, war es üblich, dass die Fische nach erfolgreichem Verkauf in Zeitungspapier gewickelt wurden, um so dann vom Käufer nach Hause getragen zu werden.

Zeitungspapier! Man stelle sich das mal vor! Sollte es jetzt also tatsächlich soweit kommen, dass er jetzt, wo er tot war, in Zeitungspapier gewickelt wurde? Und wenn ja, in welchen Teil der Zeitung? Vermischte Meldungen oder Wirtschaft? Den Sportteil, der ihn überhaupt nicht interessierte? Stellen- oder Todesanzeigen? Mein Gott, dachte der tote Rudolf, wenn ich es doch wenigstens ins Feuilleton schaffen würde.

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