Montag, 26. Mai 2014

Wunderlich tapst der Küchenchef im Mai



Im wunderschönen Mai wandelten wir unter den Linden, welche auch dieses Jahr wieder vor ihrer Zeit in voller Blütenpracht standen und bereits diesen unvergleichlichen Duft durch die Strassen trugen. Es war ein Abend voller Erwartungen und in meinem Innern klang die helle und sehnsuchtsvolle Stimme von Fritz Wunderlich, der diesen Monat in Schumanns Dichterliebe mit der wohl schönsten Tenorstimme aller Zeiten besang. Mit anderen Worten, der richtige Soundtrack, um einen Abend in der Kronenhalle zu verbringen, wo mein Freund und ich unser soeben zurückgelegtes verflixte siebte Jahr verabschieden wollten.

Wenn man in die Welt der Kronenhalle eintaucht, befindet man sich unweigerlich in einer anderen Zeit, die noch analog funktioniert. Die Kellner und Serviertöchter (ja, ich nenne sie noch so!) erinnern mich immer an die Zeiten, die ich selber nicht erlebt habe, aber die ich von unzähligen Bildern und Filmdokumenten her zu kennen glaube. Dürrenmatt und Frisch in angeregter Diskussion; Paul Nizon aus Paris zu Besuch in der Zwinglistadt bei einem Glas Rotwein; Ces Keiser und Margrit Läubli nach einer ihrer unzähligen Vorstellungen im Hechtplatztheater bei einem kleinen Nachtessen...die Liste ist schier unendlich. Es ist eine Welt, die man sich irgendwie zurückwünscht, auch wenn man weiss, dass diese Zeit kein bisschen besser war. Nichtsdestotrotz bietet sie Gelegenheit zu kleinen Fluchten, verträumten Vorstellungen und idealisierten Erlebnissen.

Doch wir hatten jetzt unser siebtes Jahr überstanden und wollten das feiern. So sassen wir an unserem Tisch und blickten in diesen prächtigen Raum. Da der Abend dazu angetan war, klassisch daherzukommen, bestellten wir ganz klassisch Blinis mit Rauchlachs als Vorspeise, ein Chateaubriand als Hauptgang und als süssen Abschluss eine Mousse au chocolat, für welche die Kronenhalle berühmt ist. Dazu tranken wir eine wunderbare Flasche Pommard und genügend Mineralwasser, um nicht vor lauter Weinseligkeit gleich noch Tränen in die Augen zu bekommen. Das Klassische als Klischee.

Während wir uns an dem wirklich sehr guten und sehr klassischen Chateaubriand labten, tapste der Küchenchef zwischen den Tischen umher, als hätte er die Orientierung verloren und wäre auf der Suche nach einem Gast, der schon lange nicht mehr aufgetaucht war. Die Rolle als Gastgeber war ihm offenbar abhanden gekommen, weil ihm das Jetzt einen Streich gespielt hatte. Denn er blieb augenscheinlich glücklos auf der Suche nach der verlorenen Zeit und schien ziellos wie ein alter Eisbär, gefangen im Zoo, im Gehege hin und her zu gehen. Ein bedauernswerter Zustand, wenn man ihm nicht entrinnen kann, die Vergangenheit zu gross geworden scheint und man mit dem, was noch kommen mag, keinen Frieden schliessen kann.

Bestimmt hätte Fritz Wunderlich, wenn er nicht viel zu früh gestorben wäre, bei diesem Mann noch ein Lächeln auf das Gesicht zaubern können. Hätte mit seiner Ode an den Mai und den damit verbundenen Wünschen und Sehnsüchten der Rastlosigkeit und dem Verlorensein ein Ende gesetzt. Aber dafür war es jetzt zu spät. Denn nicht jeder Mai macht alles neu.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen