Mittwoch, 6. November 2013

Hier kocht Poesie.



Maria stand in der Küche und blickte auf die matte Chromstahlfläche der Anrichte, die wie ein silberner See vor ihr lag. In Gedanken versunken, liess sie die Sonne durchs Fenster ihre hohen Wangenknochen kitzeln und schien die Wärme des Lichts weder auf der Haut noch in den wilden lockigen Haaren zu spüren, die zu einem buschigen Wirrwarr zusammengeknotet waren. In sich eingekehrt, wartete sie lauernd auf einen Einfall zu einem Menü, mit dem sie heute Abend ihre Gäste bezaubern wollte. Und da es Freitag war, musste es Fisch sein, so viel war ihr schon einmal klar.

Plötzlich sah sie aus dem Fenster direkt in die Sonne, als hätte sie gerade eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Die anfänglich hochgezogenen Augenbrauen des Erstaunens entspannten sich schnell und machten einem Lächeln Platz, das sich langsam auf ihrem Gesicht ausbreitete und zu verraten schien, dass die Idee für ihren Küchenzauber nicht mehr weit sein konnte: Tucholsky. Es musste wie ein Gedicht von Kurt Tucholsky sein.

„Ich habe dir alles hingegeben / mich, meine Seele, Zeit und Geld. / Du bist ein Mann – du bist mein Leben / du meine kleine Unterwelt.“

Maria erinnerte sich wieder an dieses melancholische Gedicht, das voller Zärtlichkeit und Wehmut von einer tief empfundenen Liebe und der damit einhergehenden Verletzlichkeit erzählte, weil sich diese Liebe wohl nie gänzlich erfüllen mochte.

„Doch habe ich mein Glück gefunden, / seh ich dir manchmal ins Gesicht. / Ich kenn dich in so vielen Stunden – nein, zärtlich bist du nicht.“

Was wohl dazu passt? Ein Gedicht, das vielleicht in den Zwischenkriegsjahren im Berlin der Zwanziger geschrieben wurde? Einer Zeit, wo die Menschen den kommenden Beinahe-Weltuntergang ums goldene Kalb tanzend vorweg nahmen? Champagner musste auf jeden Fall Teil davon sein. Aber nicht in seinem Glanz und seiner Extrovertiertheit, sondern viel mehr als raffinierter Bestandteil eines Gerichtes.

„Du küsst recht gut. Auf manche Weise / zeigst du mir, was das ist: Genuss. / Du hörst gern Klatsch. Du sagst mir leise, / wann ich die Lippen nachziehn muss.“

Ein Champagnersauerkraut mit Meerfischen wäre genau das Richtige, lächelte Maria. Denn dieses Gericht hatte für sie schon immer eine Art Zwiespältigkeit dargestellt. Eleganz und Archaik auf einem Teller vereint.

„Du bleibst sogar vor anderen Frauen / im gut gespielten Gleichgewicht; / man kann dir manchmal sogar trauen... / aber zärtlich bist du nicht.“

Und dazu würde sie natürlich Salzkartoffeln servieren, die sie aber kurz in geschmolzenem Zucker karamellisieren würde, um zwischen der Säure des Sauerkrauts und dem archaischen Geschmack der verschiedenen Meerfische eine überraschende süsse Verbindung zu schaffen, die mit etwas Vanille und Kardamom zu einer aussergewöhnlichen Harmonie werden dürfte.

„O wärst du zärtlich! / Meinetwegen / kannst du sogar gefühlvoll sein. / Mensch, wie ein warmer Frühlingsregen / so hüllte Zärtlichkeit mich ein!“

Maria strahlte nun übers ganze Gesicht, denn sie hatte den Hauptgang soeben gefunden. Alles andere war nur noch eine Frage der Komposition. Denn Vorspeise, Zwischengang und Nachspeise würden sich nun ganz leicht daraus ableiten lassen. Dafür würde ihr der Markt, den sie gleich aufzusuchen beabsichtigte, mehr als genügend Optionen bieten. Denn genau das war es, was ihre Kochkunst ausmachte. Sie brauchte einen Anfang. Einen Einfall. Ein Gedicht.

„Wärst du der Weiche von uns beiden, / wärst du der Dumme. Bube sticht. / Denn wer mehr liebt, der muss mehr leiden. / Nein, zärtlich bist du nicht.“

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