Samstag, 28. September 2013

Auf eine letzte Tasse Tee



„Das Grosse und das Tiefe in der Musik von Richard Strauss liegt nicht in den Tönen, den Takten oder den Tempi. Ja, nicht einmal in den Klängen. Auch was die Interpretation betrifft... ach, die wird ja sowieso überschätzt. Was ist schon eine Interpretation? Was kann eine Interpretation denn schon leisten? Nein, das Grosse an Strauss’ Musik ist das Davor und das Danach. Die Weite jenseits der tatsächlich komponierten Musik. Es ist der nicht hörbare Kontext, der sich als Metakommunikation über das Werk ausbreitet. Das Ahn- und Fühlbare. Das Woher und das Wohin. Glauben Sie mir, hätte ich nur gesungen und interpretiert, dann wäre mein Erfolg vollkommen ausgeblieben. Stimmumfang, Tonfarbe, Phrasierung, Klangtiefe, Reinheit; das alles sind nur Schlagworte für selbstgefällige Kritiker, arrogante Musikwissenschaftler oder devot veranlagte Musikliebhaber im Konzertsaal. Aber das hat mit Singen nur wenig zu tun, das sind allenfalls technische Angaben dazu, was eine Sängerin leisten kann. Doch was eine Sängerin um jeden Preis leisten muss, ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Gewollten. Welche Empfindung hat Strauss hier ausdrücken wollen? Welche Erinnerungen mochte er gehabt haben? Wie viel Schmerz musste er für die Komposition erleiden? Was hat es ihn gekostet, solche Musik mit anderen teilen zu müssen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen. Das zu erkennen und fühlen zu können, macht die Musik erst gross. Es ist die simple Voraussetzung, um einem Lied annähernd gerecht zu werden. Es ist auch die Bedingung dafür, Glück und Genugtuung beim Singen erfahren zu können. Noch etwas Tee?“

Clara Imfeld blickte dem Tod geradewegs in die Augen und zeigte ein spöttisches Lächeln. Es war diese Kaltschnäuzigkeit, die sie sich ihr Leben lang angeeignet und verinnerlicht hatte und die sie für sich zu nutzen wusste. Sie hatte sich daraus eine Karriere als Sängerin komponiert und war eine der ganz grossen Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts geworden. Was sie dabei für ihre Bewunderer besonders auszuzeichnen schien, war ihre unbeirrbare und intellektuelle Herangehensweise an ein Werk. Sie sang keine Lieder oder Arien, sondern sie lebte Musik. Sie litt Berg, atmete Mozart, betete Bach und starb Wagner. Sie beeindruckte Dirigenten zutiefst, brachte Regisseure zur Verzweiflung und zeigte dem Publikum die kalte Schulter. Sie kreiste an den Konzerten wie ein schwarzer Vogel über den Köpfen der Zuschauer, der Musikerkollegen und der Veranstalter, um dann mit Wutanfällen, Crescendi oder – was wohl das Schlimmste sein mochte – mit Verachtung dem Ausdruck zu verleihen, was sie so einzigartig und eigen machte. Dennoch hatte sie damit Erfolg, wurde gehätschelt und umschwärmt. Man liebte ihre kompromisslose Haltung, ihre Arroganz und ihre Unnahbarkeit, weil man wusste, dass sie all diese schlechten Angewohnheiten und fragwürdigen Charaktereigenschaften nicht ihrer Person, ihrer Reputation oder ihrer Eitelkeiten wegen angenommen hatte, sondern weil es für sie als Künstlerin wohl gar keine andere Wahl gab, als so zu sein. Sie war für ihre Bewunderer ganz einfach ‚La Clara’.

„Ich habe keine Angst, zu gehen, mein lieber Tod. Auch ich halte die Zeit für gekommen. Es wird nicht mehr besser.“ Ein feines Lächeln huschte jetzt über die Lippen der Sängerin und ein zärtlicher Blick flog wie ein Sommervogel flatternd durch den Raum, der bei jedem Flügelschlag eine Erinnerung aus einem reichen Leben wegzuklatschen schien. 

„Wissen Sie, ich habe mir das ganz anders vorgestellt, das Sterben. Nicht etwa dramatisch, oh nein. Das hatte ich ja schon zu Genüge während meiner Arbeit durchleben müssen. Und oft genug auf schmerzhafte Weise mit einer Begleitung, die entweder den Ton nicht getroffen, oder die einfach zu chargiert von der Bühne geplärrt hatte, so dass man dieser Person am liebsten ein grosses Pflaster übers Maul geklebt hätte.“ Angewidert wischte sie diesen Gedanken mit der einen Hand sogleich wieder weg und änderte abermals den Ton.

„Ich habe mir das Sterben erbärmlich vorgestellt. Habe mich als kränkliche Frau gesehen, die man wie einen durchgetretenen Teppich in die Ecke stellt und darauf wartet, bis sie in sich zusammenfällt.“

„Haben Sie lange auf mich gewartet?“, fragte der Tod.

„Nein, ich glaube nicht,“ erwiderte sie, „nicht, dass ich mich erinnern würde.“ Doch kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, stutzte sie und es schien, als würden ihre Gesichtszüge für einen Augenblick den Atem anhalten. Dann sah sie dem Tod unverwandt in die Augen und plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf: „Doch natürlich habe ich Sie erwartet. Hier drinnen,“ sie klopfte mit der Faust fest gegen ihre Brust und fuhr fort, „hier habe ich es gefühlt. Jeden Tag, schon ein paar Wochen. Es wurde immer leichter und leichter und...ich war schon lange bereit.“

„Das ist gut so.“ erwiderte der Tod ihren entschlossenen Blick, wandte dann den Kopf aus dem Fenster und betrachtete zwei grosse Pappeln, die unweit vom Hause standen.

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