Mittwoch, 18. September 2013

Zitronenfalter in luftigem Eis



Jakob blickte aus dem Fenster und sah unter sich ein Meer von Wolken, während die Mittagssonne bald ihren Zenit erreichen würde. Vor knapp 2 Stunden war er am Narita International Airport in Tokyo in den Airbus A340-300 der Swiss gestiegen und musste daran denken, was er kurz zuvor in einem National Geographic gelesen hatte.

In einem Artikel über Schmetterlinge erfuhr er, dass Zitronenfalter, als einzige Art in Europa, im Freien überwintern und dabei selbst Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius überleben konnten. Eine, aus hauptsächlich Glykol bestehende, Körperflüssigkeit würde es dem Falter ermöglichen, die Körpertemperatur so tief zu senken, dass er in eine Art Ruhestarre fällt. 

Verschneite Zitronenfalter an Zweigen hängend, was für ein Bild, dachte Jakob. Ein gelber Sommervogel unter einer kleinen Schneeschicht, der den Wintermonaten trotzt und dort ausharrt, bis ihm die wärmenden Sonnenstrahlen wieder Leben einhauchen. Doch was Jakob dabei wirklich faszinierte, war die Idee, dieses Bild in eine kleine kulinarische Überraschung zu verwandeln, welche er in seinem Restaurant seinen Gästen servieren lassen konnte. Denn schliesslich war es ja die Inspiration gewesen, die ihn für ein paar Wochen nach Japan reisen liess, um neue Eindrücke und Einfälle für sein Restaurant zu gewinnen. Und den eben erst erhaltenen dritten Michelin-Stern würde er mit all seiner Kreativität, seinem Einfallsreichtum und seinem ganz aussergewöhnlichen Sensorium immer wieder aufs Neue verdienen müssen. So liess er sich im Land der aufgehenden Sonne nicht nur von der Küche, sondern auch von der Kultur, der Lebensweise wie auch der Kunst inspirieren. Und dass ihn genau jetzt dieser Zitronenfalter zu denken gab, schien für ihn kein Zufall zu sein. Er hatte hier seine Sinne für Neues geöffnet, hatte die Augen weit aufgetan und konnte nun sehen, dass scheinbar abstrakte Linien, das Leben genau widerzuspiegeln vermochten, als wäre ein Tuschestrich eine ganze Lebensgeschichte. 

All dies flatterte ihm nun wegen dem Zitronenfalter durch den Kopf. Ein Koch, ein erstklassiger Koch, hatte die Aufgabe, diese Geschenke des Zufalls anzunehmen und in genussvolle Köstlichkeiten zu verwandeln. Und während andere Köche daraus eine extravagante Vorspeise, einen verspielten Hauptgang oder ein aufwändiges Dessert machen mochten, lag seine Stärke darin, das Offensichtliche und Naheliegende zu machen und damit zu überraschen. Es musste zweifelsohne ein Zitroneneis sein. Ein Zitroneneis mit etwas Sauerrahm, einem Schuss Vollrahm, vielleicht auch etwas in Milch aufgeschäumtem Ingwer, Zitronengras – und Safran. Ja, das Eis sollte wie ein Zitronenfalter im Schnee leuchten und so leicht und luftig schmecken, als wäre es ein flüchtiger Gedanke, der trotz allem noch lange in Erinnerung bleiben würde.

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