Mittwoch, 2. Oktober 2013

Speck für magere Zeiten



Juri spazierte durch das nahe Birkenwäldchen und blickte durch die bereits orange gefärbten Blätter in die Septembersonne. Jedes Jahr war es dasselbe. Er erfreute sich einerseits an der Schönheit der sich gerade verändernden Natur und litt gleichzeitig an der Tatsache, dass er heute wieder seine Lieblinge, die jungen Schweine, zum Schlachter bringen musste. Der Wurf des Frühjahres war reif für das Messer. Und er sollte es seinerseits für deren letzten Gang sein.

Das Leben hatte Juri unfreiwillig zum Henkershelfer gemacht. Hier in der russischen Taiga hineingeboren, war eine Biographie als Bauer einfach viel ergiebiger als die eines Dichters. Und wenn ihm auch das Schreiben immer ein grosser Trost war, so konnte es ihn hier in der Weite Russlands, fernab von grossen Städten, doch nicht ernähren. Und weder der Vater noch die Mutter hatten damals das Geld, ihn länger als ein paar Jahre in die Schule zu schicken. Dass er überhaupt schon eine Schule besuchen durfte, kam einem kleinen Wunder gleich. Denn zweifelsohne war der Zar mehr an einem ungebildeten und arbeitssamen Volk, als an denkenden Menschen interessiert. Und diese Weltanschauung schien sich bis zu der Beamtenschaft in den äussersten Provinzen durchzusetzen, wo Neid, Habgier und Geltungssucht je länger je mehr das Klima im ganzen Reich vergifteten. Und ein Bauernjunge hatte das zu bleiben, was er war: ein Untertan des Adels, der für das Wohl der anderen zu leiden hatte.

Ach ja, selbst die schönen Tage im Herbst konnten Juri nur für kurze Zeit erheitern. Aber er haderte mit seinem Schicksal, und die Aussichten, dass er noch heute seine klugen Schweinchen ans Messer liefern musste, trübten seine Laune, wie ein kalter Nebeltag, nur noch mehr ein. Und dann kam ihm auch seine Mutter in den Sinn, die das Leiden ihres Sohnes durchaus schon lange bemerkt hatte, und die ihm mit ruhiger Stimme stets zu sagen pflegte: „Ich weiss, mein lieber Juri, es schmerzt dich, wenn du die Schweinchen zum Schlachter bringen musst. Aber denke daran, weil sie dir so lieb waren, hatten sie ein gutes Leben. Ein kurzes, aber gutes Leben. Das ist mehr, als viele Menschen bei einem langen Leben zu erwarten haben. Und vergiss auch nicht, dass nur Menschen Dinge im Leben ändern können, die eine Vorstellung davon haben, was ein gutes Leben sein könnte. Und ich glaube, du hast das Zeug dazu. Vielleicht nicht heute. Aber der Tag wird kommen. Und wenn es dann soweit ist, wirst du merken, dass du Veränderungen nur dadurch erreichen kannst, wenn du Liebgewordenes hinter dir lässt.“

Und wenn die Mutter dann sah, dass auch dieses Zureden bei Juri keine Früchte trug, weil er ihre Binsenwahrheiten schon lange nicht mehr für bare Münze nahm, doppelte sie gleich nach und sagte mit einem Lächeln: „Und was die Schweinchen angeht, denk daran, wie gerne du den Geruch von gebratenem Speck hast.“

Nein, seine Mutter war nicht dumm. Und sie kannte ihn immer noch besser, als er es sich eingestehen wollte. Auch heute, wo die warme Septembersonne den lieben Schweinchen den Rücken das letzte Mal wärmte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen