Mittwoch, 8. Januar 2014

Der Appetit der Unschuld



Soeben aus Amsterdam und Berlin zurückgekehrt, schlenderte ich an einem kalten Januartag durch die tief verschneite Madison Avenue und bereitete mich auf das bevorstehende Mittagessen mit Martin Scorsese vor. Wir hatten uns im San Domenico verabredet und wollten uns über sein neustes Filmprojekt austauschen, für dessen Ausstattung ich als Production Designer verantwortlich zeichnen würde. Bei der Geschichte handelte es sich um eine Novelle von Edith Wharton, deren Handlung sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der New Yorker High Society abspielte und für dessen Verfilmung sich Scorsese ein opulentes visuelles Tableau wünschte.

Schon vor Weihnachten hatte ich mich zu diesem Zweck mit Michael Ballhaus, dem Kameramann von Martin Scorsese, in Los Angelos getroffen, und wir waren beide überein gekommen, dass wir uns für die Bildsprache bei den niederländischen Malern des 17. Jahrhunderts bedienen wollten. Insbesondere die Stilleben mit Blumen und Esswaren schienen für uns die ideale Bildwelt dafür zu sein. Also machte ich mich nach den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1991 auf den Weg nach Europa, um dort die Bilder von Jan Davidsz de Heem persönlich und unmittelbar unter die Lupe zu nehmen. Natürlich hätte ich mir auch mit der Ansicht von edlen Bildbänden ein Bild machen können (Internet war damals noch ein Fremdwort), aber die direkte Gegenüberstellung mit Gemälden ist einfach eine ganz andere Art der Inspiration. Das Leuchten der Farben, die Struktur der Pinselstriche, die Dimensionen der Gemälde an sich sowie auch die Präsentation in einem Ausstellungsraum vermitteln ganz andere visuelle Informationen als ein noch so gut gedrucktes Bild in einem Buch. Kommt hinzu, dass die räumliche Wahrnehmung eines Bildes auch die eigene Inspiration zu neuen Dimensionen führt und ihr eine Tiefe verleiht, die nachher im Film für den Zuschauer erlebbar werden soll. Ja, das Betrachten von Bildern und deren Adaption für die filmische Umsetzung waren für mich, wie auch für Michael, eine ganz eigene Disziplin.

Als ich in das Restaurant trat, sah ich Martin schon an einem Tisch in einer kleinen Nische sitzen und die Speisekarte studieren. Wir begrüssten uns herzlich und ich setzte mich schon ganz aufgeregt an den für mich vorgesehenen Platz.

Nachdem wir uns ein gutes neues Jahr gewünscht, gegenseitig verschiedene Grüsse ausgerichtet und das Essen beim Kellner bestellt hatten, fixierte mich Scorsese mit seinen listigen Augen durch seine dunkel gerahmte Brille und fragte, was ich für ihn habe.

Ich lächelte ihn an und sagte: „Ich habe dir genau zwei Bilder, welche alle Facetten der Geschichte in sich vereinigen. Schönheit und Vergänglichkeit, Lust und Leidenschaft, Verführung und Melancholie, Freude und Enttäuschung, Leben und Tod. Und diese zwei Bilder werden zum visuellen Programm für deinen nächsten Film. Voller Unschuld, aber auch voller Verderben. Sie zeigen keine Landschaften, keine pompösen Villen und auch keine malerischen Strassenzüge. Sie sind eine Idee. Die Essenz, dessen, wie Michael und ich die Geschichte visuell umsetzen wollen.“

Als ich vor ihm die zwei Stilleben von de Heem ausbreitete, zeigte sich ein Lächeln auf Scorseses Lippen. Nach einer kleinen Pause schliesslich meinte er ganz lakonisch: „Ich glaube, wir müssen jetzt dringend was essen. Du hast mir Appetit gemacht.“

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