Sonntag, 19. Januar 2014

Der schönste Tag in meinem Leben



Ich war ein kleiner Bube von fünf Jahren, als ich 1907 das erste Mal bei Herrn Feigenschnabel im Kolonialwarenladen stand. Meine Mutter war als junge Witwe eben erst vom Land in die Stadt gezogen und verdiente ihr Geld seit kurzem als Klavierlehrerin und Korrepetitorin am hiesigen Opernhaus. Als Frau mit Kind und ohne Mann (alleinerziehend war damals noch kein Begriff) war sie zudem sehr darum besorgt, dass ich mein neues Umfeld schnell kennenlernen würde, damit sie mich auch einmal selbständig auf einen Botengang oder einkaufen schicken konnte. Also war es sehr naheliegend, dass sie mich in die wundersame Welt des Viktor Feigenschnabel führte, dessen Geschäft wirklich gleich um die Ecke war, und mir dabei zu verstehen gab, dass ich hier nun in Zukunft alleine hinzugehen hätte, um dies und jenes einzukaufen. Ich glaube, das war der schönste Tag in meinem Leben.

Herr Feigenschnabel und seine Frau waren ein kinderloses Paar gewesen, die hier inmitten von wohlriechenden Köstlichkeiten standen, dabei immer ein Lächeln auf dem Gesicht hatten und uns Kindern stets eine kleine Leckerei mit auf den Weg gaben. Mal war es eine getrocknete Aprikose, mal ein paar Mandeln oder Erdnüsse. Und wenn Weihnachten vor der Türe stand, konnte es sogar passieren, dass man ein ganzes Reiheli Schokolade bekam. Bei Feigenschnabels gab es einfach immer etwas. Das was dann der schönste Tag in meinem Leben.

Da meine Mutter als berufstätige Frau, die zwar einen Teil ihres Einkommens am Klavier in unserem Wohnzimmer verdiente, oft keine Zeit für mich erübrigen konnte, machte ich es mir zur Gewohnheit, zu Feigenschnabels Kolonialwarenladen zu gehen und dort meine Zeit vor dem grossen Fenster mit den Auslagen zu verbringen. Denn für mich war das wie ein grosses überdimensionales Puppenhaus. Als Herr Feigenschnabel mein oftmaliges Erscheinen auffiel, bat er mich herein und fragte, ob ich etwas Bestimmtes suche? Als ich das verneinte und erwiderte, mir würde einfach das Ladenlokal so gut gefallen und ich könnte mich stundenlang kaum daran satt sehen, machte er mich sofort zum Ladengehilfen, mit dem Hinweis, dass er das mit meiner Mutter zwar noch klären müsste, aber sie wohl nichts dagegen einzuwenden hätte. Ich glaube, das war der schönste Tag in meinem Leben.

Von nun an war eine meiner Aufgaben, auf einem hölzernen Schemel zu stehen und mit einer Dosierschaufel Kaffeebohnen, Nüsse, Getreide, Mehl, Zucker, Salz, Trockenbeeren und vieles mehr in Papiersäckchen verschiedener Grössen zu füllen. Dabei lernte ich nicht nur das konzentrierte und genaue Arbeiten, sondern wurde auch in die Mengenlehre eingeführt, bevor ich auch nur wusste, dass es Worte wie Mathematik und Algebra gab. Das heisst, ich lernte anhand der verschiedenen Gewichtsteine die Gewichtsmasse so wie deren Addition. Und als ich begriff, dass ich das begriffen hatte, war ich überzeugt, dass das der schönste Tag in meinem Leben war.

Eine weitere Aufgabe bei meiner Arbeit als Ladengehilfe bestand darin, den Geschichten von Herrn Feigenschnabel zuzuhören. Denn er verstand sogleich, dass mich nicht nur die Köstlichkeiten in den Schubladen, Gläsern und Holzgestellen interessierten, sondern auch deren Herkunft. Also entführte er mich täglich in alle Ecken der Welt und erzählte mir, was es mit Kolonialwaren auf sich hatte. So wurden die Kaffeebohnen zur südamerikanischen und afrikanischen Dschungelgeschichte. Die Dörräpfel und –birnen zum Loblied auf das hiesige Tafelobst. Die Mandeln zur romantisch blühenden Landschaft in einem Land, wo man mit Stieren in der Arena kämpfte. Und der Reis zu einer abenteuerlichen Reise nach China. Und jede Geschichte machte den jeweiligen Tag zum schönsten Tag in meinem Leben.

Als ich ein kleiner Junge war, da reiste ich im Kolonialwarenladen von Herrn und Frau Feigenschnabel um die ganze Welt. Es war eine Zeit, die nur aus schönsten Tagen bestand. Und es war eine Welt, die das grösste Geschenk für ein Kind war, dessen Neugier sich nie stillen liess. Ich glaube, das war das schönste Kindsein, das man sich überhaupt vorstellen konnte.

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