Montag, 24. Juni 2013

Trennungsschmerz eines Eigelbs vom Eiweiss

Sie wussten beide, dass in diesem Händedruck alles lag. Der erste Blick, die erste Berührung, der erste Kuss, Erinnerungen an den ersten gemeinsamen Schnee. An Worte und Gelächter, stundenlange Schritte über die heimischen Hügel bei Geschichten und glücklichem Schweigen. Das erste Nachtessen in der zu kleinen Wohnung. Der leise, wohlgemeinte Spott der Freunde. Die erste grosse Nacht: Ein weisses Lacken zu einer Zuckerlandschaft geworfen. Haut, die nach warmer, zerflossener Butter roch und unter den Händen zu schmelzen schien. Haare, die wie ein wildes Feuer durch die Nacht loderten. Wellen des Glücks. Das Aufwachen und Anschmiegen. Der erste gemeinsame Tagesbeginn. Das Vorstellen bei den Schwiegereltern. Rote Köpfe, Freundlichkeiten, Kaffee und Kuchen, Nierentischchen, verstohlene Berührungen. Ein dicker Bauch, ein weisses Kleid und eine unendlich lange Predigt von der Kanzel. Eine grössere Wohnung, ein besserer Job. Das erste Kind. Super-8 und Dreirad, Rimini im Wohnwagen und Pizza bei dreissig Grad. Militärurlaub. Der zweite Bub. Eine neue Arbeit, ein neues Dorf und neue Nachbarn. Ein neuer Wagen und Gran Canaria im Flug. Und zu Hause kaum noch Abenteuer. Einsame Abende vor dem Fernseher, reges Geschwätz am Stammtisch. Und dazwischen kaum ein Kuss. Den Kindern hin und wieder eine Ohrfeige und ein neues Töffli. Kaffeekränzli im Sternen. Wochenendausflüge mit der Männerriege. Die erste Freundin des Sohnes. Die erste Freundin des Mannes. Der erste Freund, ein alter Freund. Im Tee der erste Gin. Das neue Haus, ein grosser Garten und das Präsidium im Frauenverein. Den Jüngeren beim Onanieren erwischt. Wanderferien in den Bündner Alpen. Gemse durch den Feldstecher und ein schmaler Grat. Sie wusste, dass in diesem Händedruck alles lag. Sie lächelte ihn an und liess dankbar los. Und während er fiel und schrie, wurde ihr Herz immer leichter. Das Eigelb hatte dem Eiweiss ihr Leben verziehen.


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