Freitag, 28. Juni 2013

400 g? Aber mais oui!

Jean-Paul Veaudelle liebt das Üppige. Sei es der von Lebensmittel überquellende Markt in der Rue de Seine, die Karosserie seines neuen Citroën DS, die Oberweite der jungen Brigitte Bardot, die Wölbungen seines Bizeps oder seine dichte Körperbehaarung hinten und vorne. Denn ein richtiger Mann, so der übergewichtige Glatzenträger, hat Haare an Arm und Brust – und nicht am Kopf. Und da Veaudelle ein Lebemann ist, der kein langes Federlesen macht, wenn er etwas will, lebt er gut und gerne auf grossem Fuss. Doch mon Dieu, musste er nicht im Krieg lange genug hungern und jeder Kartoffel, jedem Ei und jedem noch so faden Kohl hinterher rennen? Doch, das musste er. Darum ist es für ihn jetzt auch keine Frage, dass an diesem wunderschönen Septembermorgen des Jahres 1958 ein ganz besonderes Stück Fleisch gekauft werden musste. Etwas, von dem er noch die ganze Woche würde schwärmen können. Eine fleischgewordene Offenbarung. Ein Gedicht, das er bei der Boucherie Mouton auf der anderen Strassenseite für sein redlich verdientes Geld gleich würde erstehen können. Ein Poem aus Proteinen. Ein Kalbscarrée. Ein Kotelette nach Mass.


Verkäuferin: „Wie viel darf es denn sein, Monsieur Veaudelle?“

Veaudelle:    „Etwa vier Zentimeter dick.“

Verkäuferin: „Etwa so?“
 
Veaudelle:    „Etwa so.“

Verkäuferin: „Voilà. Genau 400.“

Veaudelle:    „Bestens.“

Kundin:         „Das ist aber ein schönes Stück.“

Veaudelle:    „Nicht wahr?“

Kundin:         „Ein schön grosses auf jeden Fall.“

Veaudelle:    „Wie meinen?“

Kundin:         „Nun ja, 400 g. Für Sie allein?“

Veaudelle:     „Mais oui.“

Kundin:         „Sie sollten doch an Ihre Gesundheit denken.“

Veaudelle:    „An meine Gesundheit?“

Kundin:         „An Ihr Gewicht.“

Veaudelle:    „Madame, ich wüsste nicht, was Sie das zu kümmern   hätte.“

Kundin:        „Ich dachte ja nur...“

Veaudelle:    „Mein Gewicht ist perfekt.“

Kundin:        „Nun ja...“

Veaudelle:   „Genau so perfekt wie das von diesem Kalbscarrée.“

Kundin:       „Aber ich wollte ja nur...“

Veaudelle:   „Das Gewicht dieses Carrées, mein Gewicht: beide perfekt.“

Kundin:       „Ähm...“

Veaudelle:  „Und noch viel mehr. Das Gewicht hat eine poetische Kraft.“

Kundin:       „???“

Veaudelle:  „Denn ich mach aus diesem Stück Fleisch ein Gedicht.“

Kundin:     „Drehen Sie jetzt durch?

Veaudelle: „Ein Gedicht, sage ich ihnen!“

Kundin:      „Wenn Sie meinen.“

Veaudelle:  „Nein Madame, nicht ich meine das, sondern mein Gaumen.“

Kundin:      „???“

Veaudelle:  „Mein Cyrano de Bergerac hier unter dem Halszäpfchen, sehen Sie.“

Kundin:      „Mein Gott, Sie machen mir Angst.“

Veaudelle:  „Ehrlich? Dann kann ich ja gehen. Bonjour Madame.“


Epilog: Jean-Paul Veaudelle pflegt sein Kalbscarrée auf beiden Seiten scharf anzubraten, bis es goldbraun ist. Dann lässt er es in einem Bräter bei 160° im Ofen bei Ober- und Unterhitze noch weiter braten. Schliesslich nimmt er es aus dem Ofen, beträufelt es mit kaltgepresstem Olivenöl und würzt es mit Fleur de Sel. Denn Monsieur Veaudelle würzt das Fleisch niemals vor dem Anbraten. Nicht, weil man es als Profi so macht, sondern weil er ein Poet ist.



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