Sonntag, 11. August 2013

Nussgipfelsonate


























Gertrude Bitsch sass im Musikzimmer ihres herrschaftlichen Bürgerhauses aus dem 19. Jahrhundert vor dem Klavier (ich wusste gar nicht, dass Steinway auch Klaviere macht) und wippte, mir den Rücken zugewandt, mit beiden Armen im Takt zu Chopins Tritsch Tratsch Polka auf und ab. Mit ihrer Hochsteckfrisur, die schon meine Grossmutter so zu tragen pflegte, sah sie aus wie ein etwas flügellahm gewordener Vogel, dazu gewillt, alles geben zu wollen. Und so trudelten die Klänge wie hüpfende Wandergesellen durch den Raum, um dann durch das Fenster hinaus im sommerlichen Garten das Weite zu suchen; vielleicht, nicht ohne vorher noch etwas von den reifen Kirschen am Baum zu naschen.

Ich sass mit übergeschlagenen Beinen auf einem nicht unbequemen Biedermeiersofa (wo hatte sie dieses wohl so gut auffrischen lassen?) und lauschte mit einem Lächeln der Rührung dem immer noch frischen Spiel dieser Frau mit Jahrgang 1924. Seit zwei Monaten bewohnte ich nun das Haus neben Frau Bitsch und hatte mich endlich dazu durchgerungen, die immer fröhliche Dame (weil ihr Mann vielleicht schon seit über 30 Jahren unter der Erde lag?) zu besuchen. Und obgleich ich solche kleinen Verpflichtungen alles andere als liebe, hat mir Getrude Bitsch (ich bin dann s’Trudi) soeben ein Fenster zu meiner Kindheit geöffnet. 

Eine Kindheit in kurzen schwarzen Manchesterhosen, braun-weiss-gelb-orange-rot gestreiftem kurzärmeligen Pullover und hellbraunen Sandalen, die ich nur mit dunkelblauen Socken tragen durfte (meine Mutter hatte da ihre Prinzipien). Auch damals sass ich bei einer Nachbarin, Frau Professor Stüdeli, und hörte mir an, wie sie mir versuchte – halb Vorspiel, halb Vortrag – Bach näher zu bringen. Und um dieses Vorhaben auch wirklich zum Erfolg zu verhelfen, hatte Frau Professor Stüdeli damals einen ganzen Stapel mit Appenzeller Baumnussgipfeln vor mir auf einem Teller aufgetürmt und mich lächelnd gebeten, mich zu bedienen (was ich auch gerne getan hätte, wenn das Foto mit dem sehr säuerlich dreinblickenden Professor Stüdeli selig nicht unmittelbar neben dem Teller gestanden wäre). Aber damals noch zu sehr darauf erpicht, eine gute Falle zu machen (wenn du dich nicht benimmst, bekommen deine Ohren was anderes zu spüren als Musik), getraute ich mich gar nicht erst zuzugreifen, was dazu führte, dass meine Lust auf diese feinen, schlanken, mit Hefeteig umwickelten und mit Zuckerstaub bedeckten Nussgipfel wohltemperiert den Bach hinunterging.

„So mein Lieber, länger möchte ich sie nun wirklich nicht mit meiner Musik langweilen“, sagte Trudi, noch während der letzte Klang seine Pirouetten durch die Luft machte und sich erst allmählich in nichts auflöste. „Ich hoffe aber, es hat Ihnen doch ein klein wenig gefallen?“

Von dem überraschenden Ende auch wirklich überrascht und in die Gegenwart geholt, stammelte ich Begeisterung spielend ein paar kleine Komplimente und versicherte: „Es hat mir sogar sehr gut gefallen. Ich liebe Klaviermusik. Und dieser Walzer (diese Polka ist ein Walzer nämlich) war allerliebst.“

„Oh, das freut mich“, klatschte Trudi Bitsch in die Hände und fragte sogleich und sehr interessiert: „Welches ist denn Ihr Lieblingskomponist, Christian?“

„Bach!“, schoss es sofort aus meinem Mund, als wären gerade alle Schleusen geöffnet worden, „Bach mag ich sehr gerne. Aber mit Nussgipfel.“ Triumphierend und irgendwie glücklich strahlte ich sie an und sah, dass sie es zu verstehen versuchte.

Bäckerei Café Hecht, Hechtgasse 19, 9427 Wolfhalden

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