Samstag, 15. März 2014

Luigi riecht den Braten



Als Luigi in den 60er-Jahren mit seiner Frau Maria nach Zürich kam, war er ein hagerer, schüchterner und auf seine Weise doch sehr mutiger junger Italiener, der, wie viele andere mit ihm, die Familie, die Heimat und die Armut in Apulien hinter sich gelassen hat, um sich und seiner Frau eine Perspektive zu geben. Denn das, was sie hinter sich gelassen hatten, war zwar ein Teil von ihnen gewesen, aber es bot ihnen auf lange Sicht nicht einmal den Funken einer Hoffnung. Und wie es so ist, wenn das Bekannte in seinen Möglichkeiten immer einschränkender und beengender wird, dann verliert das Neue und Unbekannte an Schrecken und macht in kleinen Schritten der Zuversicht Platz. So kam es, dass Luigi zum Zeitpunkt seiner Emigration auch zu einem hoffnungsvollen Immigranten wurde. Einer, der es packen wollte und sich für eine Stelle als Dachdecker in Zurigo bewarb, die er dann auch prompt erhalten hatte.

Heute, mehr als 50 Jahre später – und die Pensionierung schon seit beinahe 10 Jahren hinter sich gebracht – steht Luigi immer noch fast täglich auf den Dächern Zürichs und macht, für das mittlerweile ziemlich gross gewordene Dachdeckergeschäft seines Sohnes Giulio, kleinere Kontrollen und hält nach losen Ziegelsteinen, verstopften Dachkännel und anderen kleinen Unwetterschäden Ausschau. Ein Job, den sein Sohn eigens für ihn geschaffen hatte, um ihn auf seine geliebten Dächer zu bringen und damit nicht nur Luigi, sondern auch seiner Mutter einen Gefallen zu machen, da sie den mittlerweile doch recht fülligen Ehemann nicht zu lange in der Küche oder im Wohnzimmer herumsitzen haben wollte. Aber es war auch ein Job, der keine Anstrengung bedeutete und der als kleine Akquisitionsstrategie doch hin und wieder einen neuen Auftrag zu generieren vermochte. Und schliesslich wusste der Sohn, dass sich sein Vater inzwischen über den Dächern mehr zu Hause fühlte, als in den Gassen und auf den Plätzen. Ja, sogar mehr als in den kleinen Beizen, wo er sich mit anderen alten Italienern traf, sofern sie noch lebten und nicht von einem Altersheim lebendig verschluckt wurden.

Und heute nun steht Luigi an einem herrlichen Frühlingstag wieder auf einem Dach im Dörfli und blickt auf sein Reich. Was für ein Panorama sich da vor ihm offenbart. Die ETH, das Grossmünster, die Dächer des Niederdörfli, das Fraumünster, der grosse St. Peter, die Schipfe, der Hauptbahnhof und das Landesmuseum. Alles liegt vor ihm und wie ein Vogel sitzt Luigi auf dem First eines Hauses, blickt mit liebevollem Blick auf seine Stadt und sieht dabei auch die Jahre, die ihn auf dieser Dächerlandschaft begleitet haben. In solchen Augenblicken wurde ihm bewusst, dass er zwar ein sehr arbeitssames, aber auch ein glückliches Leben geführt hatte. Er hatte seine Chance damals genutzt und mit Freude und Fleiss umzumünzen verstanden. Dabei wusste er nur zu gut, dass ihm nicht nur seine Geschäftstüchtigkeit und seine Bauernschläue eine grosse Hilfe waren. Nein, er hatte auch oft das Glück des Gelingens und so manchen Zufall auf seiner Seite.

Vor allem aber wusste er, dass er zu Hause, im Kreis 5, eine Frau hatte, die zu ihm stand und ihn stets ermutigte, bei seiner Arbeit an sein Glück zu denken. Und die ihm jeden Tag wundervolle italienische Küche zubereitete. Und zwar nicht nur aus Apulien, sondern aus ganz Italien. Denn für Maria war Kochen zur grossen Leidenschaft geworden und sie wurde darin auch zu einer wahren Meisterin. Es war ihre Art gewesen, sich von der Heimat abzunabeln und in ihrem neuen Leben, in einem neuen Land und in einer neuen Sprache mit etwas auseinanderzusetzen, das einerseits mit ihrer Herkunft zu tun hatte, das sich aber auch erweitern liess. Sie wollte sich nicht selbst beschränken und nur apulische Gerichte kochen. So lernte sie zum Beispiel einen Fisch auf jede erdenkliche Weise zuzubereiten, wie man es auf Sizilien, am Golf von Neapel, auf Sardininen, in Genua, im Veneto, in der Emiglia-Romagna oder in Rom machte. Und so wurde es auch bei den Pastagerichten, den Risottos, den Bistecche oder den Dolci gemacht. Für Maria gab es einfach nur die italienische Küche. Und darin wusste sie in jeder Beziehung aufzutrumpfen.

Mit etwas feuchten Augen – war es der Wind oder vielleicht doch dieses Gefühl von Dankbarkeit? – blickte er in Richtung Bahnhof und schloss dann die Augen. Dann nahm er einen tiefen Atemzug und war sich sicher, dass er es riechen konnte. Ja, er konnte den Schmorbraten riechen, den Maria gerade für ihn zubereitete. Dabei hatte sie den Rinderbraten von der Schulter über Nacht in Barolo mit zwei Karotten, zwei Zwiebeln, einem Stangensellerie, einem Lorbeerblatt, fünf Pfefferkörnern und vier Knoblauchzehen eingelegt. Dann hat sie den Braten aus der Marinade genommen, trocken getupft und ihn dann mit Salz, schwarzem Pfeffer, Paprika und etwas Curry gewürzt, um ihn dann auf allen Seiten anzubraten. Als nächstes nahm sie den Braten wieder aus dem Topf und stellte ihn warm, während sie nun die Marinade einkochen liess und sie auf etwa einen Drittel reduzierte. Schliesslich gab sie den Braten in die Reduktion, goss etwas Bouillon und Rahm hinzu und liess den Braten mindestens drei Stunden auf der kleinsten Stufe schmoren. Dann gab Maria ein halbes Kilo frische Morcheln in die Sauce und liess das Ganze noch zwei weitere Stunden schmoren. Ja, genau das konnte er riechen. Auch wenn es unmöglich war. Aber Luigi hatte ja schliesslich 50 Jahre auf den Dächern Zürichs verbracht. Da musste man ihm wohl nicht beibringen wollen, was er zu riechen hatte. Denn dafür, war seine Liebe zu seiner Frau und ihrer Küche viel zu gross.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen