Mittwoch, 9. April 2014

Zürich tanzt den Cancan



Die Kamera schwingt sich in die Höhe, steigt wie ein Heissluftballon in die Nacht und zeigt dann in einer Totalen aus der Vogelperspektive einen mit alten Platanen bepflanzten Platz. Vor verschiedenen im Parterre beleuchteten Restaurants sitzen Menschen an ihren Tischen, essen, trinken, parlieren und lachen, beleben den Ort mit Freude und verwandeln die Häuserfassaden zu theatralischen Kulissen. Ein Obsthändler hat malerisch seine Auslagen vor der Tür in die Höhe getürmt und eine alte Frau führt ihren kleinen Wau-wau Gassi. Man wähnt sich in Paris, hört im Geiste schon die kräftig brüchige Stimme Edith Piafs und kann es kaum erwarten, bis die Kamera endlich den Eiffelturm, das Sacre-Coeur oder die Kathedrale Notre-Dame vor die Linse schiebt. Alles ist so voll von Pariser Luft, dass es einem warm wird ums Herz.

Doch als die Kamera tatsächlich vom Platz über die Häuser in die Stadt hinaus schwenkt, sehen wir auf einmal den grossen St. Peter, das Fraumünster, die Frauenbadi, das Bauschänzli und schliesslich den Zürichsee. Hallo? Sind wir hier im falschen Film? Rieche ich nicht etwa im Wein geschmortes Lamm, Rosmarin, angebratener Knoblauch, Lavendel und Deux-Chevaux-Abgase? Sind das da unten keine eleganten Damen in grünen, gelben und rosafarbenen Kostümen von Chanel? Und diese farbigen Glühbirnen dort am Ufer? Leuchten die nicht von einem Hausboot auf der Seine? Hallo, Herr Regisseur, hören Sie mich? Da stimmt etwas nicht. Da wurden die Locations vertauscht. Das ist nicht Paris da unten, das ist Zürich. Hallo? Haaaaalllllooooooo!

Was ist hier passiert? Nun, es ist eigentlich ganz einfach. Die Zürcher sind auf die Haxen gekommen und haben den Charme rustikaler mediterraner Küche entdeckt. Lammhaxe geschmort, Schweinshaxe gegrillt und Ossobuco in hundert verschiedenen Variationen. Die Marktküche, wie wir sie aus der Rue de Seine in Paris, aus Aix-en-Provence oder aus Milano kennen, erobert die Schweizer Wirtschaftsmetropole und macht aus der geschniegelten Stadt mit ihren Anzügen und Hipsterklamotten eine leicht bekleidete Dulcinetta. Einen Ort, an dem uns die junge Sophia Loren, mit kaum mehr als einem Unterrock bekleidet, verführerisch entgegenlächelt und zuzwinkert. Eine junge Brigitte Bardot, die noch nicht zur fatalistischen Tierschützerin geworden ist, sondern uns mit einem lasziven Blick immer noch den Himmel in Blond auf Erden verspricht. Mein Gott, Zürich ist tatsächlich sexy geworden.

Und man kann diese Sexiness und dieses Gefühl von ‚Unschuld auf dem Lande’ auf den Tellern hiesiger Restaurants schmecken. Das stundenlang geschmorte Fleisch, das wie eine Verheissung vom Knochen fällt. Die würzige Schwarte, die uns knusprig ein offenes Feuer und Wacholder-Holz erahnen lässt. Oder die dunkle sämige Sauce, die uns, fast schon betrunken vom Wein, mit ihrer eleganten Rustikalität begeistert, weil sie die ganze Provence mit ihren Kräutern überflutet zu haben scheint. Ja, Zürich hat das Savoir-Vivre französischer Frivolität entdeckt und tanzt gerade mal den Cancan. Und wir? Wir applaudieren, weinen vor Glück und rufen: „Hoch die Haxen!“

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