Sonntag, 23. Februar 2014

Holderzonne à la Chanel










Babette und Elsi waren zwei junge Appenzeller Mädchen, die im innerrhodischen Brülisau zur Welt kamen, dort zur Schule gingen, von den Eltern und dem Pfarrer streng katholisch erzogen wurden und schon in jungen Jahren verheiratet werden sollten. Denn obwohl man auf dem Land um 1918, als der Krieg und die Spanische Grippe noch am wüten waren, nicht gar so hungern musste, wie das damals in der Stadt oft der Fall war, waren die Inauens und die Fässlers trotzdem nicht auf Rosen gebettet und hatten dafür zu sorgen, dass ihre heiratsfähigen Töchter nicht allzu lange ihren Löffel in die Suppe am Familientisch hielten. Das hatte in keiner Weise mit einem Zuwenig an Liebe zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit einem Zuwenig an Rappen sowie einem Zuviel an Fortpflanzungsgelegenheiten. Denn nach den Töchtern kamen noch mehr Töchter und – seien wir ehrlich – mit etwas Glück auch noch ein paar ‚Buebe’.

Doch während sich Inauen Sepp und Fässler Emil, ein jeder für sich, alle in Frage kommenden potenziellen Schwiegersöhne durch den Kopf gehen liessen, dachten Babette und Elsi gar nicht daran, sich wie Kühe an den Bestbietenden verschachern zu lassen. Denn sie waren beste Freundinnen von Kindstagen an und hatten sich schon als kleine ‚Meedle’ geschworen, sich von nichts und niemanden trennen zu lassen. Komme, was da wolle.

Nun muss man wissen, dass die eigene Meinung einer jungen Frau damals nicht sehr viel galt. (Viele sagen, dass sei in Appenzell auch heute noch so.) Und das wussten auch unsere beiden besten Freundinnen. Und so kam es, dass es in Brülisau nicht zu den gewünschten Verheiratungen kam, sondern zum unverfrorenen Reissaus zweier Mädchen, die sich ihren Eltern, den Nachbarn, dem Pfarrer, dem Herr Lehrer und allen anderen, die glaubten, in einem Dorf die Nase in alles hineinstrecken zu dürfen, widersetzten. Also, packten sie eines Nachts heimlich ihr Bündel, was weiss Gott wenig genug war, und machten sich gemeinsam auf den Weg in die weite Welt.

Das war zuerst St. Gallen, wo sie als Stickerinnen 12 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche, ihr erstes eigenes Geld verdienten. Dann, als ihre Väter versuchten, sie nach Hause zu prügeln, flohen sie nach Winterthur, wo sie als Haushaltshilfe und als Köchin bei einer Fabrikantenfamilie unterkamen. Und auch wenn sie die Familie hier anständig behandelte, sie beide im gleichen Zimmer schlafen konnten und ihnen so manche Widrigkeit der damaligen Zeit erspart blieb, wollten Babette und Elsi hier nicht Wurzeln schlagen, sondern ihrem Wunsch, die weite Welt kennenzulernen, in die Tat umsetzen. So kam es, dass sie im Jahre 1923, nach einer fünfjährigen Flucht aus der Enge der Heimat, in Paris ankamen und dort ihr Glück als Näherinnen versuchen wollten.

Auswandern ist immer mit einem starken Heimatgefühl verbunden. Denn man flieht das Bekannte, weil es einem zu nahe kommt und zu etwas Bedrückendem wird. Nicht nur in existenzieller Hinsicht, sondern auch bezüglich der emotionalen Erlebenswelt. Viele, die auswandern, leiden nicht an der Tatsache, dass sie in der Heimat nicht verstanden werden, sondern daran, dass sie ihre Heimat nur aus der Ferne lieben und verstehen können. Und auch wenn sie sich an einem neuen Ort niederlassen, dort eine Karriere machen, ein Leben aufbauen und glücklich werden, so ist doch immer auch ein Teil mit der Heimat verbunden. Vielleicht aus Rührseligkeit. Vielleicht aus dem Wunsch, die Kindheit und das Vergangene nicht ganz verloren zu wissen. Vielleicht aber auch ganz einfach aus Liebe.

Und unsere beiden ‚Meedle’? Sie hatten grosses Glück. Sie landeten im Atelier einer gewissen Mademoiselle Chanel. Dort wurden sie nicht nur sehr bald zu Atelierleiterinnen, sondern auch zu zwei fürsorgliche Damen, die für viele junge Frauen zur Familie wurden. Und wenn man das Glück hatte, hin und wieder bei ihnen zu Hause an der Rue Freycinet eingeladen zu werden, dann servierten sie wunderbaren fladenartigen Kuchen mit Birnenfüllung, Holundermus mit Vanille-Eis und einen Käse, dessen Geruch eine wahre Herausforderung darstellte, und der ihnen jedes Frühjahr von einem Stoffhändler aus der Schweiz mitgebracht wurde. Wenn man sie dann fragte, woher diese Genüsse stammen, blickten sich Babette und Elsi an und die eine oder die andere von ihnen erwiderte mit traurigen Augen und einem Lächeln: „Ich glaube, daran können wir uns nicht mehr erinnern.“

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